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zerrissen. Ich rannte sogleich die Treppe hinunter und fragte:
„Wer ist da?“ Die Antwort kam unverzüglich: „Keine Angst,
Madame, es ist die Wirtschaftspolizei. (C‘est la police écono¬
mique.)“ Ich öffnete die Tür, vor der ein stattlicher, dunkelhaa¬
riger, recht gut aussehender Mann stand. Er trug Zivilkleidung.
Ich fand zwar seine Erklärung erleichternd, war aber trotzdem
verstört und zitterte. Er folgte mir nach oben. Unser Apparte¬
ment umfaßte ein durchschnittlich großes Wohn-Schlafzim¬
mer, einen kleinen Speiseraum und ein weiteres Zimmerchen,
das wir für Pierre benutzten, sowie eine kleine Küche. Es gab
kein Bad. Das Kinderbett war an Mme. F. gegangen und es war
zu gefährlich, es sich von ihr zurückschicken zu lassen. Unser
Nachbar von gegenüber, ein Weißrusse, hatte uns ein Cam¬
ping-Bett geliehen. Er, seine Frau und zwei kleine Kinder wa¬
ren 1917 aus Rußland geflohen. Nach einer langen, gefährli¬
chen Reise kamen sie in Persien an, wo sie das Bett erworben
hatten. Schließlich landeten sie in Frankreich, das Bett war
noch immer in ihrem Besitz. Es eignete sich schlecht für ein
kleines Kind und Pierre kugelte oft heraus, obwohl ich einen
Stuhl an die Seite gestellt hatte. Bei seinen Stürzen blieb er im¬
mer unverletzt.

Wir setzten uns, und er begann mich zu verhören. Jemand
hatte die Police économique benachrichtigt, daß ich versuchte,
eine zweite Milchkarte für Pierre zu bekommen, obwohl ich
möglicherweise die erste gar nicht verloren hätte und nur an¬
derswo für den Bezug der Milch registriert sei. Ich fand nie
heraus, wer uns da denunziert hatte. Er setzte seine Fragerei
fort, wobei mich eine Frage beinahe überrumpelte — die Frage
nach dem Mädchennamen meiner Mutter. Ich zögerte einen
Augenblick und sagte dann „Re“. Dies war der Name unserer
Wirtin in den Pyrenäen und war mir wegen seiner Kürze ge¬
genwärtig geblieben. Während des ganzen Verhörs konnte ich
spüren, wie von Zeit zu Zeit Röte in mein Gesicht schoß. Ich
erzählte: „Die Karte muß während der Bahnfahrt von Toulou¬
se aus meiner Tasche gefallen sein. Wir sind Flüchtlinge aus
dem Elsaß und mein Mann ist als Dolmetscher in einem deut¬
schen Seefahrts-Büro beschäftigt.“ Dabei sorgte ich mich we¬
gen meines Akzentes und hoffte, diese Erklärungen würden
ihn überzeugen. So war es in der Tat. Dann kam die Testfrage:
„Kann ich ihr Ihr Livret de famille sehen?“ Jedes französische
Ehepaar erhält bei der Eheschließung dieses Dokument mit
den Eintragungen der Ehe, der Geburtstage der Kinder usw.
Unsere Organisation war nicht in der Lage, uns ein solches Do¬
kument zu geben, das entweder gefälscht werden mußte oder
sehr schwer erhältlich war. Ich antwortete: „Mein Mann hat
das Livret...“ „Nun gut“, antwortete er, „sagen Sie ihm, er soll
damit morgen Vormittag in mein Büro kommen.“ Er gab mir
die Adresse des Büros und verließ mich. Er war ausgesprochen
höflich.

Als Harry nach Hause kam, verzehrten wir unser mageres
Nachtmahl (das Hauptmahl des Tages). Gewöhnlicherweise
war es Gemüsesuppe mit Kartoffelstücken darin (das bißchen,
was wir hatten, sparte ich uns für Pierre ab), sowie Nudeln oder
Spaghetti mit wenig Fett und ohne Käse. Keinen Kaffee, keine
Mehlspeise. Das Schlucken kam uns hart an. Beide waren wir
niedergeschlagen. Wir besaßen weder ein ‚livret de famille‘
noch die Aussicht, eins zu bekommen. Was sollten wir ma¬
chen? Sollten wir unsere spärlichen Siebensachen packen und
sofort abreisen? Verzweifelt schauten wir uns gegenseitig an.
Und dann erinnerte Harry sich, daß wir einmal eine Kinderbei¬
hilfe für Pierre erhalten hatten. Harry war für Personalangele¬
genheiten in seinem Büro zuständig. Zu seinen Pflichten ge¬

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hörte die Sicherstellung von Familienbeihilfen für bezugsbe¬
rechtigte Mitarbeiter, auf der Grundlage der Geburtsdaten von
deren Kindern, die im ‚livret de famille‘ eingetragen standen.
Und wir hatten einmal diese Zuwendung erhalten. Damals
überredete Harry den französischen Sachbearbeiter, daß er das
‚livret‘ verlegt hatte — aber nur ein einziges Mal. Trotzdem, die
Postbestätigung der Überweisung war ein Dokument.

Am nächsten Tag begaben wir uns alle drei zur Police &co¬
nomique. Wir trafen dort ein mit dem Gefühl einer uns erwar¬
tenden Katastrophe. Würde man uns wegen Betrugs verhaften
und der regulären Polizei übergeben? Was würde mit Pierre
geschehen?

Die Police économique war in einem großen, staubigen
Zimmer untergebracht, voll mit Dokumenten und Aktenord¬
nern. Es sah sehr unordentlich aus. Nach Anklopfen traten wir
ein. Pierre rannte uns voraus. Er war sehr fröhlich und hielt al¬
les für einen großen Spaß. Wir nahmen uns sehr in acht, nicht
vor ihm von der auf uns lauernden Gefahr zu sprechen. Nun
sprach Harry (sein Akzent war besser als meiner). Er erklärte,
er könne zwar unser Familienbuch nicht finden, aber eine Post¬
bestätigung über den Bezug einer Kinderzulage für Pierre vor¬
weisen. Zwei Beamte saßen in dem Büro. Der, der mich am
Tag zuvor ausgefragt hatte, prüfte die Quittung sehr einge¬
hend. Er fand nichts daran auszusetzen und händigte sie Harry
wieder aus. Dann füllte er eine neue Milchkarte aus. Wir ver¬
ließen das Büro unsäglich erleichtert. Wir hatten für Pierre
Milch, die Gestapo wußte offenbar nichts über uns, und wir
konnten unsere Widerstandsarbeit fortsetzen.

Aus dem Englischen übersetzt von Arno Reinfrank. — Irene
Spiegel, geboren 1910 in New York City, ging 1937 nach Spa¬
nien, um für die Spanische Republik zu kämpfen, lernte Harry
Spiegel (vgl. MdZ Nr. 4/1999, S. 6-9) in einem Spital der In¬
ternationalen Brigaden kennen, floh mit ihm 1939 nach Frank¬
reich. Bis 1947 als Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe der Uni¬
tarier-Kirche in Marseille tätig, kehrte sie anschließend für
ein Jahr in die USA zurück. Seit 1948 lebt sie in Wien.

Verstreutes

In dem vom Österreichischen Rundfunk betriebenen RadioCafe
(die akzentfreie Schreibweise stammt nicht von uns ab) las am
17.5. 2000 Heinz Holecek Josef Weinheber und Theodor Kramer.
Erläuternd war hinzugefügt: „Der beliebte Opernstar und Parodist
Heinz Holecek liest aus Werken bekannter Literaten.“ In welcher
Eigenschaft, Opernstar oder Parodist, Holecek den berüchtigten
Antisemiten Weinheber und den als Juden verfolgten Kramer vor
seinen Karren spannte, wurde nicht gesagt. Über das Verhältnis
Kramers zu Weinheber hat Daniela Strigl zuletzt in Zwischen¬
welt 7 geschrieben. Kramer hat sich in dem Gedicht „Requiem für
einen Faschisten“ angesichts des Freitodes Weinhebers „erschro¬
cken“ als mit Weinheber „verwandt“ fühlend erklärt, auch wenn
er ihn zu Lebzeiten am liebsten „mit eigner Hand erschlagen“ hät¬
te. Weinheber hat Kramer umgekehrt „tollwütiges Seelenunver¬
mögen des sekundären Menschen“ attestiert. Für Kramer wie für
Weinheber wäre eine gemeinsame öffentliche Lesung unvorstell¬
bar gewesen.

Von dem Anekdotischen biographischer Bezüge abgesehen,
die einen Heinz Holecek auch nichts angehen, kann man die Ver¬
anstaltung als einen gelungenen Ausdruck jenes Österreich anse¬
hen, welche manche nie noch bemerkt haben wollen.