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„Also auf Wiedersehen in Nice.“

In meinem Zimmer legte ich mich sofort nieder, aber konn¬
te nicht einschlafen.

„Estelle?“

Plötzlich glaubte ich zu wissen, wer sie war. Es bestand
kaum ein Zweifel.

Ich mußte nur die Haare vom Kopf wegdenken, dann war es
das Mädchen, das ich auf dem Bild gesehen hatte.

„Ich heiße Estelle, komm zu mir her, da ist ein Platz für dich“,
hatte eine tiefe Stimme gerufen.

„Stella“, hatte ich mich vorgestellt.

„Dann sind wir ja beinahe Namensschwestern? Gelt?“

Der Kontrast zwischen der Stimme und der Erscheinung
war zu kraß gewesen. Splitternackt waren wir im sogenannten
Totenblock in Birkenau gelegen. Ich war später als alle ande¬
ren hineingeschoben worden, hatte mich nach einem bißchen
Raum umgeschaut und war der Aufforderung Estelles nachge¬
kommen: hatte mich zu ihr auf die Pritsche gelegt. Wir haben
auf unseren letzten Weg in die Gaskammer gewartet, wußten
nicht, wann man uns abholen werde, aber, daß es unabänder¬
lich sein würde, daran zweifelte niemand — außer mir. Meine
Zweifel brachten die kleine Estelle dazu, mit mir Mitleid zu
haben. Sie war sicher, daß ich durchgedreht, verrückt sei. In
diesen Stunden hatten wir uns besser kennengelernt als norma¬
le Menschen es zeitlebens mit ihren besten Freunden tun.

„Moi, je suis professeur pour la mathematique, mon mari
est architecte pour l’interieur“, erinnerte ich mich jetzt.

(Um meiner Sache sicher zu sein, werde ich ausfindig ma¬
chen müssen, ob Georges Frau Mathematiklehrerin war.)

Bei Morgenanbruch waren wir abgeholt worden. Mit Peit¬
schen hatten jene Wahnsinnigen uns auf die Lastautos gejagt.

Estelle war neben mir gewesen, als eine polnische arische
Ärztin mich heruntergeholt, gerettet hatte. Ich will nicht daran
denken, will den fragenden, hilflosen Blick vergessen, den
Estelle mir zuwarf.

Nun muß ich davon sprechen.

Damals hatte meine Retterin mich mit einer Decke, die sie
mitgebracht hatte, eingehüllt und in ihr Zimmer geführt.

Ich war buchstäblich zusammengebrochen, kniend dankte
ich Gott für mein Leben. Aber gleichzeitig besann ich mich
und rief laut:

„Wie kann ich so ein Schwein sein und dir danken, du gro¬
Ber heiliger Gott, danken, wo alle anderen jetzt brennen?“

Das nächste, woran ich mich erinnere, war kaltes Wasser
auf meinem Kopf. War ich in Ohnmacht gefallen?

Schnell hatte ich wieder zur Arbeit laufen müssen.

„Vergessen, nur vergessen“, hab ich mir wieder und wieder
vorgesagt.

Paris, Mittwoch, 19. Dezember 1945.

Wie wunderschön ist doch Paris. Es nieselte, die Feuchtigkeit
hat mich nicht gestört. Ich bin die Avenue de l’Opera entlang
gegangen, dann in die Rue Rivoli, die Luxusläden existieren
wie eh und je, ich kann es kaum fassen.

Ich bin mit der Metro rundum gefahren, wieder und wieder,
es war herrlich. In einem Bistro hab ich einen sogenannten
Kaffee getrunken. Bin ich bereits verwöhnt? Fang’ ich zu ver¬
gessen an, welch ein Gesöff ich so viele Jahre getrunken habe
und wie glücklich ich war, wenn ich überhaupt etwas bekam,
um meine immer trocknen Lippen zu befeuchten?

Ich war im „Lafayette“, hab mir ein buntes Kopftuch ge¬
kauft. Es ist viel zu teuer für meine Verhältnisse, aber schön
aus Kaschmirwolle, so weich, und es macht mir Spaß über die
Schnur zu hauen.

Triefnaß bin ich endlich ins Hotel gekommen und habe be¬
schlossen, nicht mehr auszugehn.

Es ist so angenehm warm hier, aber ich kann mich nicht
restlos dem Genuß zu faulenzen hingeben. Ich denke immer
wieder an Bergen-Belsen.

Vor zehn Tagen hab ich das Lager verlassen. Acht Monate
nach meiner Befreiung. Wie leicht sich dies niederschreibt.

Drei Wochen, nachdem die Engländer bei uns eingezogen
waren, am 8. Mai, hörten wir Kanonenschüsse: „Der Krieg ist
aus!“

Ich hatte mich gerade in der Ambulanz des Typhusspitals
eingearbeitet. Bald darauf mußten wir uns alle zur Registrie¬
rung melden.

Es gab zu diesem Zweck ein Büro der „Allied Expeditiona¬
ty Force“, welches sich in einem andern Teil des Lagers be¬
fand.

Um unsere Arbeit nicht zu vernachlässigen, gingen wir ein¬
zeln dorthin.

Hinter dem kleinen Tisch, welchem ich zugewiesen wurde,
saß ein junger Engländer in feldgrauer Uniform mit offenem
Kragen zwanglos da. Im Raum gab es einige solcher Tische.

Wie ich schon beim Eintritt merken konnte, war die Atmo¬
sphäre freundlich, die Verhöre wurden absolut wohlwollend
geführt.

Mein Engländer sprang auf, drückte mir fest die Hand und
rückte mir einen Stuhl zurecht, indem er mich aufforderte,
Platz zu nehmen.

Diese Prozedur allein, welche überall in der zivilisierten
Welt als selbstverständlich angesehen wird, war für mich ein
Erlebnis, das mich fast zu Tränen gerührt hätte, wenn ich über¬
haupt zu dergleichen noch fähig gewesen wäre.

„Sprechen Sie englisch?“ fragte er zuerst.

„Ein bißchen, französisch besser“, antwortete ich.

„Und deutsch?“

„Meine Muttersprache, leider“ — setzte ich bitter hinzu.

„Dann bleiben wir bei deutsch“, sagte er fließend.

Auf meinen überraschten Blick hin sagte er entschuldigend:
„Ich habe in Deutschland studiert.“

Sachlich: „Ihr Name?“

„Stella Breit-Borger“ antwortete ich deutlich.

Nun zog er aus einer großen Schachtel eine Karthotekkarte
heraus.

„Geboren wann?“

Er trug das Datum, welches ich ihm nannte, ein.

Aber im Bruchteil einer Sekunde kam mir zum Bewußtsein,
daß ich doch nicht mehr lügen mußte.

„Bitte um Verzeihung“, sagte ich, „dieses Datum hab ich
bei meiner Ankunft in Birkenau angegeben. Es stimmt nicht.
Ich bin älter.“

„Oh, das ist vollkommen unwichtig, Stella. Übrigens“, bei
diesen Worten schaute er mich durchdringend an, „Sie sehen
womöglich noch jünger aus als Sie mir sagten.“

Trotzdem ich wußte, wie entsetzlich ich aussah, wollte ich
ihm glauben und freute mich über das Kompliment.

„Geburtsort?“ ging es weiter. „Wien.“ Es klang gehässig.

„Wien, Wien, nur du allein sollst stets die Stadt meiner
Träume sein“, schmetterte dieser Junge laut heraus.

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