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eingeführt und weiterentwickelt (Enterrement de la Chose, 1960; Dechirex, 1965, etc.) In den Jahren 1968/69 existierten nebeneinander divergierende Formen des politischen Protests auf der Straße, des politisch-künstlerischen Aktionismus und des — meist auf Innenräume beschränkten — Happenings, wobei es durchaus zu Überschneidungen kam. Im Gegensatz zu J.-J. Lebel, der in seinen Happenings eminent politische Inhalte transportierte und transformierte (Gewalt, Sexualität, Herrschaft der Medien), ging es Kantor vielmehr um ästhetische, poetische Botschaften, die aber letztlich durchaus nicht unpolitisch waren (abgesehen davon, daß seine Aktivitäten stets mit dem Interesse der Staatspolizei rechnen konnten). 1968 formulierte dies Kantor - im Rückblick auf seine „Populäre Ausstellung“ — wie folgt: In der künstlerischen Entwicklung kommt es oft zu einem Moment, in dem sich der lebendige Schöpfungsakt in das Betreiben von Konvention verwandelt, in dem das Kunstwerk — des Risikos, des Abenteuers, der „Auflehnung“ und des ,, Unbekannten“ beraubt - solider wird, in Ernst, Würde und Prestige versinkt. Die gesündeste Reaktion ist es, in einem solchen Falle, das sanktionierte Podium zu verlassen und sich an etwas so Uneigennütziges zu machen, daß es fast lächerlich ist, an etwas so Intimes, daß fast ein Gefühl der Scham aufkommt, an etwas „Verächtliches“ und von vornherein zur Geringschätzung Verurteiltes. Meine Aufmerksamkeit, die bald zu einer Leidenschaft wurde, habe ich instinktiv auf Objekte „niederen Ranges“ gerichtet, die man mit Unachtsamkeit, Außerachtlassen und Vergessen quittiert und dann noch gewöhnlich auf den Müll wirft. Ich begann, meine eigenen Notizen, Skizzen und Zettel zu sammeln, „dringende“ Sachen hastig aufzuzeichnen. Dann kamen erste Entdeckungen, wenn man noch nichts ganz gewiß weiß, 44 wenn man sich noch nicht „eingerichtet“ hat und nicht daran denkt, zur Konsumtion „fertige“, mit Firnis überzogene Dinge zu schaffen, die ungeniert die Vollkommenheit des Werkes und seines Schöpfers demonstrieren könnten. Kantor mag durchaus von den ‚westlichen‘ Formen der Wechselwirkungen zwischen Malerei und Theater angeregt worden sein, es gab aber auch in Polen eine spezifische Tradition des Ausstellungsmachens. Für viele polnische Künstler, die den Krieg überlebt hatten, bedeutete das Jahr 1945 die Möglichkeit zu einer Abrechnung. Während in Warschau eine Ausstellung über die Zerstörung der Millionenstadt zusammengestellt wurde, ging man in Krakau, das von den abziehenden deutschen Truppen zwar ebenfalls zerstört werden sollte, wo aber durch ein überraschendes Umfassungsmanöver der Roten Armee die vorgesehene Sprengung der bereits verminten Altstadt und des Wawelschlosses verhindern wurde, einen anderen Weg. Neben der ebenfalls historisch-dokumentarischen Ausstellung „Polonia“, die das Leiden des polnischen Volkes veranschaulichte, zeigten Künstler, die an der Widerstandsbewegung teilgenommen oder in den Reihen der polnischen Volksarmee gekämpft hatten, Arbeiten, die in den Kriegsjahren entstanden waren. Eine dieser Ausstellungen, am 15. April 1945 eröffnet, bestand nicht nur aus Kunstwerken im engeren Sinn, sondern auch aus Fotografien, Notizen und Dokumenten, erinnerte an 24 Krakauer Künstler, die von den Okkupanten ermordet worden waren. Das Heranziehen disparater Materialien, um eine neue, verdichtete und zugleich mehrschichtige Aussage zu erzielen, griff auch ein anderer Krakauer Künstler, Jozef Szajna, auf. In seiner Ausstellung „Reminiszenzen“ (1969), die er den 1942 nach Auschwitz deportierten Künstlern widmete (er war einer der wenigen Überlebenden), arbeitete er ebenfalls mit Dokumenten, Archivaufnahmen und realen Gegenständen aus dem Lager, mit denen auch seine eigenen Erinnerungen verbunden waren. Die im West-Ost-Verhältnis übliche Hybris der Kunstkritiker hat die Rolle Tadeusz Kantors im Zusammenhang mit grenziiberschreitenden kiinstlerischen Ausdrucksformen noch kaum wahrgenommen. Er wird zwar mittlerweile als Schauspieler und Regisseur akzeptiert, aber in keinem einzigen deutschsprachigen Nachschlagwerk iiber die Happening- und Aktionskunst der sechziger Jahre erwähnt... Krakau protzt mit einem Bruchteil der Beleuchtung, in der die Landeshauptstädte Österreichs in grenzenlose Verschwendungssucht allnächtlich erstrahlen. Anstelle von Straßen, Räume und Schaufenster flach und kalt ausleuchtenden Neonröhren spenden Glühbirnen kleine Kreise von Licht und Wärme. Auch in einigen Kaffeehäusern ist die Beleuchtung spärlich, aber merh aus Gründen der gewünschten Raum