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Anschluß der Bukowina an Rumänien votierten, beschloß der jüdische Nationalrat den Ausgang der Friedensverhandlungen abzuwarten und das Optieren für Rumänien von einer Gleichberechtigung der jüdischen Bürger abhängig zu machen. Ende 1919 wurden schließlich alle nationalen Volksräte von den rumänischen Behörden aufgelöst, ohne daß den ethnischen Minderheiten Zugeständnisse gemacht worden wären. Die Abschlußsitzung stand unter dem Titel „Kultur und Gedächtnis“, und wurde von Verena Dohrn (Hannover) mit dem Referat „Grenzüberschreitungen: Jiddische und deutsch-jüdische Kulturen in Czernowitz“ eingeleitet.” Albert Lichtblau (Salzburg) sprach über „Die Bukowina: Eine Erinnerungslandschaft‘“ und zitierte aus einem Gespräch mit dem gebürtigen Czernowitzer Erwin Chargaff: „Czernowitz, das ist die eingebildetste Stadt der Welt.“ Das abschließende Referat des Ehepaares Marianne Hirsch und Leo Spitzer (Hanover, New Hampshire) trug den Titel „Auf welchen Umwegen: Place, Memory and Nostalgia“ und thematisierte am Beispiel von Marianne Hirschs aus Czernowitz stammenden Eltern und anhand deren ersten Besuch in der Heimatstadt Jahrzehnte nach der Emigration die schwierigen Themen des Exils, der Zugehörigkeit und der Erinnerung. Als Marianne Hirschs Mutter in Chernivtsi auf der Straße als Touristin erkannt und angesprochen wurde, antwortete sie auf die Frage „Woher kommen Sie?“ mit einer für die Tocher verblüffenden und unerhörten Selbstverständlichkeit: „Von hier, Czernowitzer!“!? Ihren Ausklang fand die Konferenz in der Vorführung von Ausschnitten aus verschiedenen einschlägigen Dokumentarfilmen, darunter der umstrittene Film „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ von Volker Köpp. Wenngleich eine einheitliche Beurteilung dieser Konferenz schwer fällt, so läßt sich doch sagen, daß allfällige Erwartungen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder origineller Thesen nur in geringem Ausmaß erfüllt wurden. Die Anwesenheit zahlreicher Bukowiner bot jedoch die einmalige Gelegenheit, den aktuellen Stand der historischen Forschung gewissermaßen an den realen Erinnerungen zu messen. Somit blieb diese Konferenz nicht nur eine Kontaktbörse für Fachkollegen, sondern geriet zu einem dynamischen Forum für oftmals berührende Begegnungen, getragen von einer Atmosphäre des ehrlichen Interesses und des tiefen Respekts vor dem Menschen und seiner Geschichte. Helmut Kusdat Anmerkungen 1 IFK news 2/1999, S.8. 2 Turczynski, Emanuel: Geschichte der Bukowina in der Neuzeit. Wiesbaden 1993. 3 Neue Freie Presse, 11. Juni 1925, S.2. 4 Vgl.: Burger, Hannelore: Mehrsprachigkeit und Unterrichtswesen in der Bukowina 18691918. In: Ilona Slawinski, Joseph P. Strelka (Hg.): 52 Die Bukowina, Vergangenheit und Gegenwart, Bern 1995. 5 Vgl. Hausleitner, Mariana: Juden und Antisemitismus in der Bukowina zwischen 1918 und 1944. In: Krista Zach (Hg.): Rumänien im Brennpunkt. München 1998. — Hausleitner, M.: Die Bukowiner Sozialdemokratie vor 1920. In: Schriftenreihe des Selinger-Archives, Stuttgart 1988. 6 Vgl. Stourzh, Gerald: Der nationale Ausgleich in der Bukowina 1909/10. In: Siehe Anmerkung 4. — Vgl. Leslie, John: Der Ausgleich in der Bukowina von 1910: Zur österreichischen Nationalitätenpolitik vor dem 1. Weltkrieg. In: Emil Brix u. a. (Hg.): Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag. Graz 1991. 7 Anselme, Claire: Das Kulturelle Leben in der Bukowina 1875-1918: Die Rolle der Universität Czernowitz. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Strasbourg 1999, S.100. 8 Vel. Stourzh, Gerald: Galten die Juden als NaIm Verlauf einer im Juli des Vorjahres an der Universität Chernivtsy/Czernowitz abgehaltenen Tagung zum Thema „ÖsterreichischJüdische Kultur in Czernowitz“! wurde die Idee geboren, dem wohl prominentesten Sohn der Stadt, Paul Celan, heuer, im achzigsten Jahr seiner Geburt und dreißigsten Jahr seines Freitodes, eine wissenschaftliche Konferenz in Wien zu widmen. Hubert Gaisbauer, zuletzt Leiter der Abteilung Religion im Hörfunk, gelang es schließlich, in Zusammenarbeit mit Bernhard Hain vom ORF, der Österreich-Kooperation, der Österreichischen Kulturvereinigung und dem Literarischen Forum der Katholischen Aktion, zwölf renommierte internationale Referenten für ein zweitägiges Symposion zu gewinnen, das am 12. und 13. April im Radiokulturhaus stattfand. „Sie, die Sprache blieb unverloren, ja, trotz allem.“ Dieses Zitat aus der Rede Celans anläßlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises 1958, das dem Symposion seinen Titel gab, zeigt die unauflösbare Verwobenheit von Dichtung, Sprache und persönlichem Schicksal bei Celan. Dementsprechend galten die Referate seinem Werk und seinem Leben gleichermaßen. Nach sehr persönlich gehaltenen Eröffnungsworten von Hörfunkintendeant Manfred Jochum und Sektionschef Sigurd Höllinger, der sich daran erinnerte, als Gymnasiast seinen Deutschlehrer mit Celans „Todesfuge“ überrascht und überfordert zu haben, sprach der Historiker Michael Kater (Toronto) über „Paul Celan und Paradigmen der Kontinuität in Österreich und Deutschland nach 1945“. Anhand zahlreicher Beispiele beschrieb Kater das von Verdrängung und Ignoranz geprägte gesellschaftliche Klima und die stickige intellektuelle Atmosphäre in Deutschland und Österreich der Nachkriegszeit, die es Celan unmöglich machten, in Wien zu bleiben oder unbeschwert Deutschland zu bereisen. Celans feines Sensorium für Antisemitismen selbst der subtilsten Art wurde tionalität Altösterreichs? (Darin auch zur Causa Max Diamant). In: Studia Judaica Austriaca 10. Eisenstadt 1984. 9 Vgl. Heymann, Florence: Au-dela du Dniester, jusqu‘aux plaines du Nil. In: Les cahiers du judaisme 4/1999. — Heymann bereitet ein Buch vor, das Erinnerungen jüdischer Bukowiner an die Zeit 1918-1945 zum Gegenstand hat. 10 Der Ehrentitel ‚Mr Czernowitz‘ wurde Zvi Yavetz u. a. von Josef N. Rudel zugedacht, in: Die Stimme. Mitteilungsblatt für die Bukowiner. Tel Aviv, 1/2000, S. 2. 11 Von David Shaary erscheint noch heuer in Israel ein Buch in Iwrit mit dem Titel: „From a ‚Golden Age‘ to the disaster. The Jews in Bukowina between the two world wars.“ 12 Vgl. Dohrn, Verena: Reise nach Galizien. Frankfurt/Main 1991. 13 Marianne Hirsch und Leo Spitzer bereiten ein Buch mit altbukowiner Familiengeschichten vor. “_ Celan in Wien von der Wirtschaftswundergesellschaft kräftig genährt und bestimmte und belastete sein Leben in zunehmendem Maße. Vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen, die auch in Österreich den Ruf nach einer homogenen nationalen ‚Identität‘ lauter werden lassen, stellt sich verstärkt die Frage nach der Bedeutung dieses Begriffes. In ihrem Vortrag wies die aus einer altbukowiner Familie stammende, an der Universität Pittsburgh lehrende Literaturwissenschaftlerin Amy Colin auf die Vielzahl unterschiedlicher Identitätstheorien und -bestimmungen hin.? Die Definition von Identität als homogene Entität sei nur eine unter vielen — andere Theorien betonten vielmehr den pluralen Charakter jeglicher Identität. Pluralität mache den geistigen und kulturellen Reichtum eines Landes aus, sagte Colin. Celans Kulturlandschaft, die multikulturelle Bukowina der Vorkriegszeit sei ein Sinnbild der pluralen kulturellen Identität Österreichs wie Europas. Durch die vielschichtige Intertextualtät seines Werkes und in seiner reichen Übersetzertätigkeit habe Celan die Tradition der Toleranz seiner Heimat fortgesetzt. Er habe den pluralen Charakter seiner Identität als Bereicherung empfunden und weise damit einen anderen Weg: den Weg einer offenen, vielschichtigen Identität, die Celan freilich ebenso Inspiration wie Belastung gewesen sein dürfte und ihn auf die deutsche Sprache als unüberwindbares identitätsstiftendes Merkmal zurückwarf. — Eine Sprache allerdings, die ihm Mutter- und Dichtersprache blieb, trotzem sie zur Mördersprache geworden war. Celan gab diese Sprache nicht preis, sondern stellte sie in den Dienst der Erinnerung an seine durch Nationalismus und Faschismus zerstörte Welt. Der in Iasi und Paris lehrende rumänische Germanist und Experte fiir die deutschsprachige Literatur der Bukowina Andrei Corbea-Hoisie stellte sein Referat unter den Titel vs». fiir das reimlose Wort Mensch einen Reim finden ...‘ - Grundlagen und Einflüsse