OCR
Stämme miteinander verglich. Vor allem aber läßt Nikolic das entbehrungsreiche tägliche Leben der weit verzweigten, unfreiwillig nomadisierenden Sippe lebendig werden und damit auch sein eigenes suchendes Wandern samt aller Unruhe, Melancholie und zeitweiliger Resignation. Pferdehändler und Wahrsagerinnen tauchen da vor uns auf, Handwerker, Hausierer und Diebe, Schausteller, Bettler und Musikanten. Von Sitten und Bräuchen ist die Rede, von Hunger und Zorn, Stolz und verletztem Ehrgefühl, Rache und Verschlagenheit. Von der Liebe und vom Tod. Von Frauen, die wieder und wieder hungrige Kinder gebären und dennoch nicht aufgeben. Seit mehr als dreißig Jahren lebt der Autor nun schon in Wien. Vielleicht spürt der aufmerksame Leser (in einem Land, das seine Vorfahren für ihn bereitet haben und das er deswegen Heimat nennt, in dem er jetzt sicher und wohlgeborgen nur mehr seine eigenen Rechte erkennen will) bei dieser Lektüre etwas von jener Angst, der Ausgesetztheit und Unsicherheit, mit denen so viele Menschen auf dieser Welt leben müssen, selbst heute noch in dieser so erfinderischen und ach so fortschrittlichen Zeit. Und das macht schließlich auch den Wert dieser Aufzeichnungen aus. Rosemarie Schulak Miso Nikolié: ... und dann zogen wir weiter. Lebenslinien einer Romafamilie. Mit einem Vorwort von Mariella Mehr. Klagenfurt/Celovec: Drava Verlag 1997. 142 S. OS 197,(Edition Niemandsland. Hg. von der Griinen Bildungswerkstatt Minderheiten). Genia Schwarzwald und die Emanzipation Lange Jahre hindurch war der Name Schwarzwald bloß eine beiläufige Erinnerung gewesen, eine Art von Gerücht. Hatte es nicht irgendwo in der Wiener Innenstadt eine Schwarzwald-Schule gegeben? War nicht dort der Schönberg-Verein „für musikalische Privataufführungen“ gegründet worden? Auch der Architekt Adolf Loos soll in diesem Haus - nein, nicht das am Michaelerplatz ist gemeint — ein- und ausgegangen sein; und Oskar Kokoschka, der Oberwildling, wie man ihn nannte, soll Unterricht im Zeichnen gegeben haben. Mit dem Erscheinen vielgelesener Memoirenwerke in den 1970er Jahren verdichteten sich die Gerüchte. Alice Herdan, die Gattin Carl Zuckmayers, bekannte sich zur Schwarzwald-Schule, Manes Sperber hatte in seinen Wiener Jahren in dem berühmten Salon des Ehepaars Schwarzwald verkehrt und ebenso Elias Canetti. Auch in Robert Musils Tagebüchern war der Name zu finden. Kein Wunder, soll doch Genia Schwarzwald das Urbild — oder zumindest eins der Urbilder — der Ermelinda Tuzzi, genannt Diotima, in Musils Roman ,,Der Mann ohne Eigenschaften“ gewesen sein. 60 1988 veröffentliche Hans Deichmann, ein naher Freund der Schwarzwalds, nach langer Sammeltätigkeit einen stattlichen Band, in dem er „Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald (1872 — 1940)“ darstellte, bereichert durch Briefe und eine Anzahl von Feuilletons, die sie, meistens um Geld für karitative Zwecke zu beschaffen, in den zwanziger und dreißiger Jahren veröffentlicht hatte. Nebenbei: Diotima, die nur in erlauchten Klischees zu denken vermochte, hätte keinen dieser Zeitungsartikel zusammengebracht. Mit Deichmanns Arbeit war der Weg geebnet für das mittlerweile legendär gewordene Schwarzwald-Symposium, das im Mai 1994 in der Wiener Urania stattfand und Historiker und Zeitzeugen vereinte. Jeder Referent schilderte die so spät Wiederentdeckte aus einer anderen Perspektive: vom Standpunkt des Biographen, vom Standpunkt der Schülerinnen, des Lehrkörpers, des Architekten Loos usw. usf. Unter den Vortragenden befand sich auch Renate Göllner, die wissenswerte biographische Ergänzungen vornahm. Ihr Bestreben war es, die üppige Erscheinung der „Frau Doktor“, wie man sie abkürzend nannte, in ihr historisches und kulturelles Umfeld zu stellen. Waren wir etwa informiert worden, daß Eugenie in Zürich studiert und den Doktorgrad erworben hatte, so teilte Renate Göllner zusätzlich mit, wie es mit dem Frauenstudium in der Schweiz bestellt war und wie es sich in anderen Ländern zur Mitte der 1890er Jahre damit verhielt. (In Österreich waren Mädchen weder zum Gymnasial- noch zum Hochschulstudium zugelassen.) „Kein Puppenheim“ Unter diesem Titel legt Renate Göllner nun eine wissenschaftliche Arbeit vor, die Leben und Lebenswerk der Genia Schwarzwald untersucht, und zwar in eben diesem kulturhistorischen Umfeld, das zur Beurteilung einer Leistung notwendig ist. In der so reichen Literatur über das Wien der Jahrhundertwende, bei William Johnston, Carl Schorske oder Jacques Le Rider, kommt „Frau Doktor“ nicht einmal als Fußnote vor. Damit fehlt ein wesentliches Element der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Österreich. Wie nur wenige andere hat Genia Schwarzwald durch Unterricht, sogar Turnunterricht, zur intellektuellen und physischen Emanzipation der Jugend beigetragen. Die Arbeit von Renate Göllner muß darum als Ergänzung und zum Teil als Korrektur der Wiener Fin de siecle-Literatur angesehen werden. Trotz der wissenschaftlichen Genauigkeit braucht sich vor dem Buch aber niemand zu fürchten. Es liest sich leicht und flüssig, um nicht zu sagen: unterhaltend. Als einziges Manko sei das Fehlen eines Personenregisters angemerkt. Genia Schwarzwald, Tochter jüdischer EItern, kam 1872 in dem galizischen Dorf Polupanowka zur Welt. Diese biographische Ausgangsposition mag hinlänglich erklären, warum ihr Name so viele Jahre, weit über das Ende der Hitler-Zeit hinaus, verdrängt und vergessen war. Aufgewachsen ist sie in Czernowitz, wo sie Lyzeum und Lehrerbildungsanstalt besuchte, vermutlich aber noch vor dem Abschluß zum Studium nach Zürich fuhr und im Jahr 1900 promovierte. Sie kehrte nicht nach Czernowitz zurück, sondern ging nach Wien und heiratete noch im selben Jahr den Juristen Hermann Schwarzwald. Dieser Mann, der immer und offenbar genußvoll im Schatten seiner Frau stand, gehörte zu den maßgeblichen Finanz- und Währungsexperten seiner Zeit. Kurz nach der Hochzeit leitete „Frau Doktor“ bereits eine Schule für Mädchen, ein Lyzeum. Ihr Ziel aber war ein Privat-Gymnasium, in dem Mädchen die Matura ablegen und anschließend die Universität besuchen konnten. Dieses ehrgeizige Vorhaben ließ sich nur in Etappen und auf Umwegen verwirklichen, im ständigen Kampf gegen die konservativen Unterrichtsbehörden, die ihr Prügel vor die Füße und an den Kopf warfen. Genia Schwarzwald war eine Kämpferin, selbstbewußt und unbeugsam, sie wußte sich durchzusetzen. Es ging ihr aber nicht bloß um die Vermittlung von Lehrstoff, sie wollte „ihre“ Kinder dabei frei wissen von schulischer Repression. Ohne einer bestimmten Richtung der Reformpädagogik anzugehören und ohne ein eigenes Programm zu formulieren, führte sie ihre Schule als eine das Individuum berücksichtigende Anstalt, in der sich die Schüler zuhause und glücklich fühlen sollten. „Im Stiegenhaus tanzen die Vierzehnjährigen onestep ... in den Gängen ein Gezwitscher wie von jungen Ferkeln ... Der alte böhmische Schuldiener, den die Mädels alles mögliche fragen und der spaßig verdrehte Antworten gibt, um sie abzuwehren“, notierte Robert Musil, leicht irritiert, in sein Tagebuch. Die Verbindung von Ausgelassenheit und Lernerfolg war nur möglich, weil es „Frau Doktor“ gelang, hervorragende gleichgesinnte Lehrer an ihr Institut zu binden, von denen im Buch mehrere charakterisiert werden. In der Schwarzwald-Schule waren auch Knaben zugelassen; sie war die erste Koedukationsschule in Wien. Dennoch wurde sie überwiegend von Mädchen frequentiert, von Mädchen aus begüterten Kreisen, zum großen Teil jüdischen. Als während des ersten Weltkriegs so viele jüdische Familien aus dem Osten mittellos nach Wien flüchteten, nahm Genia Schwarzwald zahlreiche Kinder, ohne nach deren Vorbildung zu fragen, in ihre Schule auf. Da sie kein Schulgeld entrichten konnten, scheint „Frau Doktor“ wohlhabende Wiener Eltern zu einer Erhöhung ihres Beitrags motiviert zu haben. Nahrung in Zeiten des Hungers Renate Göllner idealisiert ihre Heldin nicht. Sie steht ihr mit distanzierter Sympathie gegenüber und weist immer wieder auf verwandte pädagogische und soziale Bestrebungen hin. Die Sympathie der Autorin - und der Leser - hat sich Eugenie Schwarzwald indes