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verwendet hatten, um „kleine Dichtungen“ an ihren „großen Gegenspielern zu messen, das Fehlen von Schriftstellern vom Range Goethes und Schillers festzustellen und daher dieser Dichtung wenig Beachtung zu schenken.” Im Gegensatz zu ihnen untersuchte Franz Kafka solche ,,kleine“ Dichtungen um ihrer selbst willen, ohne ein Urteil über ihren angeblichen Wert oder Unwert zu fällen. Wie eine seiner Tagebucheintragungen vom 25. Dezember 1911 zeigt, hatte für Kafka der Begriff „klein“ nicht den Beigeschmack von „minderwertig“ wie für manche Literaturkritiker jener und auch unserer Tage.’ Mit . dem Scharfblick des Juristen analysierte Kafka die Eigentümlichkeiten dieser Dichtungen, hob ihre Wirkung auf das erwachende Nationalbewußtsein hervor und wies auf die Leidenschaftlichkeit der Auseinandersetzung mit der Literatur hin, die das kulturelle Leben ethnischer Minderheiten wie die der Juden und Tschechen bestimmte. Kafkas Betrachtungen wurden Ausgangspunkt der theoretischen Reflexionen von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Ähnlich wie Kafka bemühten sich auch Deleuze und Guattari um eine adäquatere Interpretation eines literarischen Phänomens im sozio-kulturellen Kontext, statt um eine a priori, abwertende Beurteilung aufgrund vorgefaßter Meinungen. In ihrer Schrift Kafka. Für eine kleine Literatur (1975) betonen sie, der Prager Dichter habe drei Grundmerkmale „kleiner Literaturen“ erfaßt, die „revolutionäre Bedingungen jeder Literatur“ seien, „die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befinden.“ Es handelt sich um eine „Deterritorialisierung der Sprache“, eine „Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische“ und um die „kollektive Aussageverkettung“. Kafkas Gedanken über kleine Literaturen sowie Deleuzes und Guattaris theoretische Weiterführung seines Interpretationsansatzes könnten auch für die Analyse der deutsch-jüdischen Bukowiner Frauenliteratur wegweisend sein. Sie können das Verständnis für deren besondere Thematik wecken. Denn diese Literatur setzt den Akut auf die Ausgrenzung der Juden, gewährt jedoch auch einen Einblick in den unermüdlichen Kampf der Frauen um Akzeptanz in der Gesellschaft. I. Diese Problematik steht im Mittelpunkt von Regine Goldschlägers Roman Die Königin von Saba. Dieser „moderne Sittenroman“ übt scharfe Kritik an der Gesellschaft der damaligen Zeit, die Frauen an der eigenen Selbstverwirklichung hindert und ihnen nicht einmal die Möglichkeit gibt, die innere Qual auszusprechen. Der Roman schildert das Schicksal einer Jungen Frau, die sich nicht aus den Zwängen familiärer wie gesellschaftlicher Verpflichtungen befreien, nicht einmal ihr Leid klagen kann und in einen Zustand der Sprachlosigkeit verfällt, einen Zustand, der sie in den Wahnsinn treibt. In einem Augenblick der geistigen Verwirrung bringt die Verzweifelte ihren Mann um, da sie diesen als die eigentliche Ursache ihrer Qual betrachtet. Im Gefängnis, in der äußersten physischen Isolation, entdeckt die Protagonistin allmählich sich selbst. Zwar kann sie ihre Verzweiflung immer noch nicht mittels Worten artikulieren, aber es gelingt ihr, das eigene Leid in erschütternden Bildern zum Ausdruck zu bringen, Dank der Malerei entdeckt die Protagonistin einen neuen Sinn in ihrem Leben. Und die Öffentlichkeit ein künstlerisches Genie. Doch es ist zu spät. Die Richter verurteilen sie zum Tode. Im Gegensatz zu der damals berühmten ukrainischen Auto58 rin Olga Kobylanska, die als bedeutendste Repräsentantin der ukrainischen Dichtung gefeiert wurde, verklang die Stimme Regine Goldschlägers im Nichts. Ihr Werk ist heute unbekannt. Ihre Biographie kann heute kaum mehr ausfindig gemacht werden. Auch wenn der Name Regine Goldschläger in Vergessenheit geriet, lebte ein Grundgedanke ihres Romans in der Bukowiner Frauenliteratur weiter: Es ist die Vorstellung, die Verwirklichung der eigenen schöpferischen Gabe sei ein Ausweg aus gesellschaftlichen Zwängen, ein Mittel des geistigen und psychischen Überlebens. Dieser Gedanke ist dem sozialkritischen Gedicht „Bessarabische Teppiche‘ von Ariadne Léwendal (1899 — 1945) inhärent. Es hängen Teppiche an einer kalten Wand. Sie sind mit Leid gewebt von einer heißen Hand In einem armen, sehnsuchtsvollen Land. Geschlagen war sie von dem Schicksal wie vom Mann. Es drohte zähneknirschend ihr der Wahn, Als Gott zum Trost den Teppich ihr ersann. Hell webte sie die Blumen in das Lied von Gott, Still webte sie die Zweige ihrer stummen Not, Schwarz webte sie die Angst vor ihrem nahen Tod. Sie webte Ornamente wie das Feld am Rand. Dort ließ das Herz gewebt ihr liebes Sonnenland. Die Not verkaufte es in eine fremde Hand. Es wurde welk am Boden von dem fremden Schritt, Und sterbend lag das Herz des Landes dort und litt... Die Blumen sangen noch ein stilles Lied.” Das Weben der Wandteppiche entfacht die schöpferische Kraft dieser Bäuerinnen, deren Existenz von Gewalt, Armut und menschlicher Erniedrigung verdüstert wird. Die Macht der Kreativität reißt sie aus dem Alltag heraus, spendet ihnen Trost, wird zum Lebenselixir. Ihre Wandteppiche sind Landkarten der Psyche, Landkarten, auf denen Gefühle als farbige Ornamente abgebildet sind: Qual und Angst, Armut und Erniedrigung, Leid und Träume, aber auch Liebe zu Gott und zur Natur sind Grundmotive der bessarabischen Wandteppiche. Sie zeugen für die Tragödie von Frauen, denen die Möglichkeit genommen wurde, sich zu verwirklichen und ein würdiges Leben zu führen. Aber die Gesellschaft, das Leben zwingt die Bäuerinnen, die Landkarten ihrer Psyche, die Quellen ihres Trostes, die Wandteppiche zu verkaufen, um sich ein Existenzminimum sichern zu können. Die Schlußzeilen des Gedichtes deuten das Schicksal dieser kleinen Kunstwerke an, das dem Schicksal der Weberinnen gleicht: Es wird von fremdem Schritt zertreten. Im Gegensatz zu den bessarabischen Weberinnen, hatte Ariadne Löwendal alle Schranken ihrer Umwelt, der jüdischen wie der nicht-jüdischen, durchbrochen, um sich selbst verwirklichen zu können. Da sie in einem orthodoxen jüdischen Haus aufgewachsen war, das Frauen nnır in der privaten, nicht aber in der öffentlichen Sphäre eine Rolle zuerkannte, wandte sie sich vom Judentum ab. Sie heiratete den Maler und Bühnenbildner Baron Georg von Löwendal, der eine wichtige Rolle im Czernowitzer und später im Bukarester Theaterleben