Domizil. In einer Zeit erheblicher Vorbehalte
gegenüber der Psychologie wird sie am Jüdi¬
schen Krankenhaus in Gesundbrunnen zur
Pionierin der erfolgreichen Zusammenarbeit
zwischen Medizin und Psychologie, die heute
etabliert(er) ist. Anschauungen ihrer psycho¬
analytischen Arbeit vermittelt der beeindru¬
ckende Band ‚Zwei Fälle zum Thema Bewäl¬
tigung der Vergangenheit“, der sich mit infol¬
ge des Holocaust entstandenen Traumata in
der Generation der Kinder von Tätern und Op¬
fern und dem Prozeß ihrer allmählichen thera¬
peutischen „Bewältigung“ beschäftigt. Vor
diesem Hintergrund ist die Studie einer der
tiefgründigsten Beiträge zum deutsch-jüdi¬
schen Verhältnis nach Auschwitz. Sie zeich¬
net sich durch einen kritischen Blick auf die
nicht seltene Konstruktion einer angeblich
„bewältigten Vergangenheit“ aus.
Seit 1966 lebt Anna Maria Jokl in Jerusalem,
Ausgangspunkt ihrer „Reise nach London“.
Dort hatte sie 1959 — „damals noch als Touri¬
stin‘ — Gelegenheit, den von ihr verehrten
Martin Buber zu besuchen, um ihm für den
starken Eindruck seiner „Chassidischen Ge¬
schichten“ zu danken. Sie erinnert sich an ei¬
ne zäh verlaufene Begegnung mit einem
scheinbar desinteressierten alten Mann, eine
Ernüchterung — mit einer überraschenden
Wendung: Das Treffen endete im Gelächter
der beiden... Eine tiefe Freundschaft war ge¬
schlossen.
1973 wurde sie als Einwohnerin von Jerusa¬
lem Zeugin des über das Land hereinbre¬
chenden, schließlich abgewehrten arabischen
Angriffs, der als „Jom-Kippur-Krieg“ in die
Geschichte einging.
Es ist ein Glücksfall, daß sich mit Anna Ma¬
ria Jokl am Ende des Jahrhunderts eine Frau
in hohem Alter (zurück)meldet, um mit ihren
sehr persönlichen Erinnerungen an die Zeit¬
geschichte und an eine ganze Reihe auch hier
noch nicht erwähnter Zeitgenossen (u. a.
John Heartfield, Georg Lukäcs, Jan Petersen)
dem Bild, das wir schon gewinnen konnten,
neue Mosaiksteinchen hinzuzufügen. Hätte
Anna Maria Jokl ihr Erinnerungsbuch nicht
geschrieben, wäre das nicht nur in dieser
Richtung ein — wenn auch ungeahnter — Ver¬
lust gewesen. Nein, zuallerst waren wir um
ein immer fesselndes Buch gebracht worden,
das so sehr Lesevergniigen ist, wie es zur Be¬
sinnung herausfordert.
Christoph Haacker
Anna Maria Jokl: Die Reise nach London.
Wiederbegegnungen. Frankfurt/M.: Jüdi¬
scher Verlag im Suhrkamp Verlag 1999.
126 S. DM 32,-/6S 234,-/Sfr 29,50
Anna Maria Jokl: Zwei Fälle zum Thema der
„Bewältigung der Vergangenheit“. Frank¬
Jurt/M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Ver¬
lag 1997. 99 S. DM 24,-/6S175,-/Sfr 22,—
(Erstmals als Buch, mit einem Nachwort des
Psychoanalytikers Klaus Röckerath. — Erst¬
druck in hebräischer Übersetzung 1968;
deutsch zuerst 1988 im LBI Bulletin).
Anna Maria Jokl: Essenzen. Erw. Ausgabe.
F.MM.: Suhrkamp Verlag 1997. 112 S. DM 19,80
Die Riickkehr des
J-Stempels
Identität, Freiheit, Ein- und Ausgrenzung
und Mobilität — in dieses semantische Um¬
feld gehören (Reise-)Pässe, die die menschli¬
che Existenz ihrer Inhaber in hohem Masse
beeinflussen. Auch heute noch kann die Tat¬
sache, einen bestimmten Reisepass zu besit¬
zen, zu einem Privileg oder zum Misstrauen
erweckenden Stigma werden.
1938 vereinbarte der Bundesrat mit Na¬
zi-Deutschland, die Pässe deutscher Jüdin¬
nen und Juden auf der ersten Seite in Form ei¬
nes roten „J“ von zwei Zentimetern Durch¬
messer zu kennzeichnen. Dieser sogenannte
J-Stempel wurde zur prägendsten Ikone
schweizerischer Vergangenheitsbewältigung
der Kriegsjahre und führte wiederholt zu
Kontroversen. Die neuere historische For¬
schung, wie sie unter anderem im Flücht¬
lingsbericht der „Unabhängigen Experten¬
kommission Schweiz Zweiter Weltkrieg“
(UEK) zum Ausdruck kommt, interpretiert
die Einführung des J-Stempels in einer
schweizerischen Tradition xenophober Ten¬
denzen und im Kontext der Ängste, die mit
dem politischen Stichwort der „Überfrem¬
dung“ instrumentalisiert werden konnten, da
die Ausgrenzung von Fremden und insbeson¬
dere von Jüdinnen und Juden kein Novum
der Kriegsjahre darstellte. Ein chauvnisti¬
scher Revisionismus hingegen, der mit dem
Begriff der „Judenstempellüge“ operiert
(Parallelen zu anderen sogenannten histori¬
schen „Lügen“ wie zur „Auschwitz-Lüge“
verweisen auf das groteske Umfeld dieser
These), interpretiert ihn als ein vom mächti¬
gen deutschen Nachbar auferlegtes Diktat,
dem sich die der Demokratie und Humanität
verpflichtete Schweiz nur zögerlich und wi¬
der Willen fügen musste.
Georg Kreis will genau dieser, seit 1997/98
salonfähig gewordene revisionistischen Ge¬
schichtschreibung eine präzise und umfas¬
sende Analyse entgegenstellen. Dieses Be¬
streben ist dringlich, bezeichnete doch Natio¬
nalrat Ueli Maurer, Präsident der rechtsbü¬
gerlichen Schweizerischen Volkspartei
(SVP), 1997 in einem Interview den J-Stem¬
pel zynisch als Massnahme, welche es der
Schweiz erleichtert habe, Flüchtlinge nicht
ausweisen zu müssen: „Deshalb hat man, un¬
ter anderem als Schutz für die Juden, den
Stempel eingeführt. Damit man wusste, dass
diese Juden nicht mehr aus der Schweiz aus¬
gewiesen werden.“
Das Buch von Kreis schildert die Vor-, Ent¬
stehungs- und Nachgeschichte des J-Stem¬
pels mit seiner zweimaligen Rückkehr in die
historiographisch-politische Diskussion der
Nachkriegszeit.
Zur Zeit seiner Entstehung und unmittelbar
nach dem Krieg war der J-Stempel kein The¬
ma. Es herrschte die trügerische Selbstzufrie¬
denheit, sich als „Land der guten Dienste“
auch in den Wogen des Krieges behauptet zu
haben. Einen ersten Meilenstein setzte 1954
Peter Rippmann im „Schweizerischen Beob¬
achter“, dessen Chefredaktor er später wur¬
de. Nach dem Erscheinen einer Edition von
deutschen Akten zu den Visumsverhandlun¬
gen von 1938 schloss dieser, dass Heinrich
Rothmund, Leiter der eidgenössischen Poli¬
zeiabteilung, der Initiant des J-Stempels ge¬
wesen sei und die deutschen Behörden 1938
veranlasst habe, die jüdischen Pässe zu kenn¬
zeichnen. Damit war die These von Roth¬
munds „Erfindung“ des J-Stempels lanciert.
Diese einfache Personifizierung des Bösen
entspricht jedoch nicht — wie seither erschie¬
nene Forschungsarbeiten gezeigt haben — den
Tatsachen. Sie trug vielmehr zur Fixierung
auf die Person Rothmunds und somit zur
Fehlleitung der Diskussion bei. Es ist jedoch
Rippmanns Verdienst, eine Debatte ausge¬
löst zu haben, die ihren politischen Output im
1957 vorgelegten Ludwig-Bericht fand. Die¬
ser blieb bis heute die wichtigste Grundlage
der Diskussion, nicht zuletzt darum, weil er
sich im Urteil zurückhielt und bei der Inter¬
pretation der Quellen viel Freiraum liess.
Die historisch relevante und interessante Fra¬
ge ist wohl die, wer im Herbst 1938 das
Hauptinteresse gehabt hat, die Pässe von Jü¬
dinnen und Juden kenntlich zu machen.
Am 23. April 1938 wurde in einem Schreiben
einer schweizerischen Amtsstelle erstmals
deutlich ausformuliert, dass die Schweiz — oh¬
ne einen allgemeinen Visumszwang für alle
deutschen Reichsangehörigen einführen zu
müssen — eine Regelung suche, die es gestatte,
jene Menschen zu erkennen, gegen die man
Einreisebeschränkungen erlassen wolle. Ge¬
meint waren vor allem „Emigranten“, sprich
Jüdinnen und Juden. Der schweizerische Ge¬
sandte in Berlin, Paul Dinchiert, schrieb am
16. Mai 1938 in einem für Bern bestimmten
Schreiben: „Die einfachste Lösung wäre na¬
türlich die, dass der Visumszwang auf die
nichtarischen [sic! Z.K.] deutschen Staatsan¬
gehörigen beschränkt würde.“ Bern meldete
wegen einer allfälligen Reziprozitätsforde¬
rung seine Bedenken an, weil eine Diskrimi¬
nierung von Schweizer Jüdinnen und Juden
der Bundesverfassung widersprochen hätte,
wonach alle Schweizer Bürger gleich seien.
Rothmund reagierte skeptisch, obwohl auch er
sich für den „maximalen Ausschluss von aus¬
ländischen Juden“ und gegen die „Verjudung“
der Schweiz einsetzte: „Es ist uns bis heute ge¬
lungen, durch systematische und vorsichtige
Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhin¬
dern.“ Seine Beweggründe waren - so das Ur¬
teil von Kreis — nicht humaner Natur, sondern
von „praktischen und taktischen Überlegun¬
gen“ geprägt. Er befürchtete, dass sich die
„ganze zivilisierte Welt“ an dieser Massnah¬
me der Eidgenossenschaft stossen werde.
Deshalb zog er die allgemeine Visumspflicht
der speziellen für „nichtarische“ Deutsche
und dem J-Spempel vor. Rothmund war ledig¬
lich mit der Methode nicht einverstanden; in
der Substanz hielt er hartnäckig am Anliegen
fest. Aus deutscher Perspektive folgte die
Kennzeichnung der Pässe nicht der hinterhäl¬
tigen und zynischen Nazi-Logik, war man