OCR
Schicksals zuerst der deutschen, österreichischen und tschechischen und später fast aller europäischer Juden inne. Eichmann und seine Männer begründeten damit ihre weiteren Karrieren.“ (Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien-Zürich 1993, S. 48f.) Der Wiener Antisemitismus soll treibender gewesen sein als der deutsche und Gsterreichische Nazis werden als Pioniere der Judenverfolgung definiert: Sie hätten sich in Wien bewährt, um dann in der Massenmordmaschinerie einen wichtigen Part zu übernehmen. Demgegenüber betonten Aly und Heim, daß die Zwangsarisierung — das rassistische Stillegungs- und Rationalisierungsprogramm der „großdeutschen“ Wirtschaft im Rahmen des Vierjahresplanes — in Wien erstmals durchexerziert wurde: „Dort wurde nämlich seit Mai 1938 (...) die Rationalisierung der Wirtschaft unter ständiger Beteiligung der Vierjahresplanbehörden in Angriff genommen: Das wichtigste Mittel war die Enteignung Zigtausender Jüdinnen und Juden und ihre Verdrängung aus nahezu allen Wirtschaftssektoren. Diesen Prozeß lenkten nicht etwa aggressive Antisemiten, sondern etablierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.“ (Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/M. 1993, S. 25) Hier wird die Arisierung und Vertreibung ökonomisch und sozialpolitisch interpretiert: „Die jüdische Minderheit aus der Wirtschaft herauszudrängen, war in diesem Konzept ein erster vorgezogener, besonders leicht durchsetzbarer Schritt im Rahmen des großen Versuchs, die sozialen, bevölkerungspolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse neu zu ordnen. (...) In Wien wurden so erstmals rassistische Ideologie und volkswirtschaftliche Rationalisierung koordiniert. Die sozialen Folgen wurden durch die Enteignung und soziale Benachteilung einer Minderheit abgefangen.“ (Eb., S. 43) Diese ökonomistische Position unterzieht Friedländer einer Kritik: „Tatsächlich hatte die Liquidierung des jüdischen Wirtschaftslebens in NS-Deutschland (...) in beschleunigtem Tempo 1936 begonnen, und Ende 1937, mit der Beseitigung allen konservativen Einflusses [in der Politik des „Reiches,,], war die Kampagne der Zwangsarisierung zur Hauptstoßrichtung der antijüdischen Maßnahmen geworden, vor allem um die Juden zur Auswanderung zu zwingen. So war also das, was in Österreich nach dem Anschluß geschah, einfach der besser organisierte Teil einer generellen Politik, die im gesamten Reich angewendet wurde. Die Verknüpfung von wirtschaftlicher Enteignung und Vertreibung der Juden aus Deutschland und aus den unter deutscher Kontrolle stehenden Gebieten charakterisierte allerdings weiterhin dieses Stadium der NS-Politik bis zum Ausbruch des Krieges. Dann erschien, nach einer Interimsphase von fast zwei Jahren, eine andere ‚Logik’, eine, die kaum von ökonomi84 scher Rationalität abhängig war.“ (S. 268f. Kursiv im Original.) — „Die Endlösung der Judenfrage.“ Enteignung und Vertreibung war bis zum Beginn des Genozid das politische Ziel der Nazis gegenüber den als Juden gebranntmarkten Menschen, und insbesondere in ihrer „Judenpolitik“ kann man sehen, daß die Nazis rigoros und brutal ein Primat der Politik verfolgten, wobei sie zweifellos nebenbei ökonomische und sozialpolitische Zwecke erledigten. Die Arisierungen jüdischer Wohnungen in Wien hatte größere Dimensionen als der soziale Wohnbau des „Roten Wien“ von 1921-34, das ist keine nebensächliche Kleinigkeit. Die Arisierung und Vertreibung verlief in Deutschland langsamer und kontinuierlicher als in Österreich, wo der deutsche Plan mit einem Okkupationsregime rascher und effektiver umgesetzt werden konnte. Daß sich der Wiener Antisemitismus nach dem „Anschluß“ widerlich in Szene setzte, ist Friedländer keine Zeile wert. Er behält den Duktus der Gesamtschau und den Strang der Umsetzung des „Erlösungsantisemitismus‘“ durch die Nazis bei, und beschreibt kaum Ausbrüche des Antisemitismus, wenn in ihnen der Arm des NS-Regimes nicht gezeigt werden kann. Im Kontext der Beraubung und Vertreibung der Juden und ihrer Vernichtung sind die Wiener „Reibpartien“ eine zu vernachlässigende Größe, aber für die österreichische Polit- und Psychohygiene sind sie es nicht. Und die Frage des Umkippens von großen Bevölkerungsteilen in rassistische und aggressive Stimmungen, wenn Gegendruck demokratischer Kräfte ausbleibt oder ausbleiben muß, ist von eminenter sozialpsychologischer Bedeutung, aber nicht Thema und Aufgabe von Friedländers Buch. Er bietet zum Verhalten von gesellschaftlichen Gruppen in der Ausnahme- und Wahnsituation des Nationalsozialismus viel Material, bleibt aber seiner Rolle als Darsteller und Vermittler eines chronologisch ablaufenden großen historischen Traumas mit Feingefühl und Augenmaß treu. Zur Rolle der Nazis österreichischer Herkunft im Vernichtungswerk ist vielleicht im zweiten Band etwas zu erwarten. Den ersten Band seines Werkes über das 3. Reich und die Juden schließt Friedländer mit einer Analyse des Verlaufs und der Folgen der sogenannten Kristallnacht, sowie der Reaktionen verschiedenster Seiten auf sie. Die „Kristallnacht“ setzte als „Erniedrigungsritual“ zweifellos eine Zäsur: Die Kommandos, die durch die Städte streiften, waren von einer „unkontrollierbaren Lust an der Vernichtung und Demütigung der Opfer“ getrieben. (S. 299) Großdeutschlandweit wurde synchron eine neue Qualität von antijüdischer Gewalttätigkeit geübt: „die sadistische Brutalität der Täter, die betretenen Reaktionen einiger der Zuschauer, das Grinsen anderer, das Schweigen der bei weitem überwiegenden Mehrheit, die Hilflosigkeit der Opfer“. (S. 300) Im November und Dezember 1938 wurden Konferenzen zentraler Stellen des NS-Regime abgehalten, in denen neue antijüdische Schritte beschlossen wurden. Die Umsetzung dieser Maßnahmen erfolgte promptest und ihre Zahl stieg rasant. „In den entscheidenden Wochen von November 1938 bis zum Januar 1939 vernichteten die von Hitler, Göring und ihren Kumpanen beschlossenen Maßnahmen gänzlich jede noch verbliebene Möglichkeit eines jüdischen Lebens in Deutschland oder eines Lebens von Juden in Deutschland. Der Abriß der verbrannten Überreste der Synagogen symbolisierte ein Ende; das Zusammentreiben der Juden in ‚Judenhäusern‘ kündigte einen noch unbemerkten Anfang an.“ (S. 314) Am 30. 1. 1939 formulierte Hitler in einer groß inszenierten Reichstagsrede jene öffentliche Drohung der Vernichtung der Juden als Ziel seines Krieges, die das Kommende schon deutlich anvisiert: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg [Im Jänner 39 waren die Sowjetunion und die USA noch keine Kriegsgegner der deutschen Aggressoren.] zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ (S. 333) Die Vernichtung des europäischen Judentums wird wohl das grausige Thema des zweiten Bandes des Werks von Friedländer sein. Welche Akzente wird er setzen, wie wird er mit den Erkenntnissen Raul Hilbergs umgehen? Das hoffentlich kurze Warten auf die deutsche Veröffentlichung des zweiten Bandes sollte der Rezeption des ersten Bandes nützen. An den Schluß stelle ich eine Passage als Leseprobe, in der Friedländer seine sorgsame und genaue Urteilsfähigkeit beweist. Er beurteilt in ihr den Antisemitismus der Nazis und vieler Schichten des deutschen Volkes und umreißt damit die Frage der Verantwortung in einer Diktatur und jene der Mittäterschaft auf sensible Weise: „Die deutsche Gesellschaft als ganze lehnte die antijüdischen Initiativen des Regimes nicht ab. Die Identifizierung Hitlers mit der antijüdischen Kampagne in Verbindung mit dem Bewußtsein der Bevölkerung, daß die Nationalsozialisten entschlossen waren, in diesem Punkt energisch vorzugehen, mag die Trägheit oder vielleicht die passive Komplizenschaft der überwiegenden Mehrheit in einer Angelegenheit verstärkt haben, die von den meisten ohnehin im Vergleich zu ihren Hauptinteressen als nebensächlich betrachtet wurde. Wir sahen, daß wirtschaftliche und religiöse Interessen ein gewisses Maß an Dissens auslösten, hauptsächlich unter der Bauernschaft und bei Katholiken und Mitgliedern der Bekennenden Kirche. Ein derartiger Dissens führte jedoch mit Ausnahme einiger Einzelfälle nicht dazu, daß die jeweilige Politik offen in Frage gestellt wurde. Doch in den dreißiger Jahren verlangte die deutsche Bevölkerung, deren große Mehrheit in der einen oder anderen Form den traditionellen Antisemitismus vertrat, keine antijüdischen Maßnahmen, und sie rief auch nicht nach ihrer ex