Ursprünglich sollte die Verfasserin Mitte September 2000 in
Wien auf dem Kongreß der Internationalen Vereinigung für
Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft einen
Vortrag halten über „die grenzüberschreitenden inhaltlichen
und literarischen Elemente in Gerhard Durlachers Texten“.
Als das Präsidium der IVG jedoch keine Gelegenheit schaffen
wollte für eine gründliche Auseinandersetzung mit den rezen¬
ten politischen Entwicklungen in Österreich, zog sie ihren
Vortrag zurück und machte sich erbötig, auf dem inzwischen
von einigen Mitgliedern der österreichischen „underground re¬
sistance“ geplanten „Wiener Kongreß für eine zivilisierte
Welt“, der ebenfalls für Mitte September anberaumt war, einen
möglichst relevanten Beitrag über die Bedeutung von
Durlachers Werk zu liefern. Dieser alternative Kongreß wur¬
de leider kurzfristig gestrichen, und so befand sich die
Verfasserin in Wien mit dem Manuskript eines Vortrages, für
den es keine Zuhörer gab.
Glücklicherweise vermittelten hiesige Freunde Kontakte zur
Redaktion der ZW, deren Zielsetzungen sich wunderbar mit
den Anliegen der Verfasserin decken. Die folgende Version ist
die kaum revidierte Fassung des Textes, wie er als Vortrag für
den alternativen Kongreß der „underground resistance“ kon¬
zipiert war. — L.N.
Gerhard L. Durlacher (1928 — 1996), Sohn musikliebender,
mittelständischer Juden, floh 1937 mit seinen Eltern aus
Deutschland in die Niederlande. Gleich der um ein Jahr jün¬
geren Anne Frank schrieb er seine Bücher in niederländischer
Sprache. Ihn jedoch zog es nicht von Jugend an zur
Schriftstellerei. Als verträumtes einziges Kind erst in Baden¬
Baden, später in Rotterdam und nach dem deutschen
Bombenangriff in Apeldoorn aufgewachsen, wurde er vier¬
zehnjährig via Westerbork nach Theresienstadt verschleppt und
von dort im Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau, wo man ihn
von seinen Eltern trennte. In dem Mauthausen-ähnlichen
Schotterlager Groß-Rosen (Oberschlesien) wird er endlich
mehr tot als lebendig von Sowjettruppen befreit, medizinisch
betreut und gut gepflegt und dann „nach Hause“ entlassen. Es
gibt jedoch kein „zu Hause‘ mehr. Via Prag und Paris erreicht
der gerade siebzehnjährige Staatenlose, noch längst nicht
Auskurierte die Niederlande und muß nun sehen, wie er sich
ohne Eltern eine Schulbildung erwirbt und mit seinem Leben
zurechtkommt. Er büffelt wie ein Besessener, einmal um vier
verlorene Schuljahre nachzuholen, ein andermal um die
schrecklichen Erinnerungsbilder zurückzudrängen und die
klaffende Leere seines Daseins zu füllen. Bereits 1947 schafft
er sein Abitur, versucht sich kurz in einer Ingenieursaus¬
bildung, entscheidet sich dann aber für Medizin. Die Jahre im
KZ haben jedoch seine Gesundheit zu sehr beeinträchtigt. Er
ist öfters krank. Nach einer Nierenoperation raten ihm die Ärz¬
te, das mehr als halbwegs abgeschlossene Medizinstudium auf¬
zugeben. Durlacher ist entmutigt, gibt sich aber nicht
geschlagen, sondern wechselt zur Soziologie über und wirkt ab
1964 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Amsterdamer
Fakultät für Politische und Soziale Wissenschaften. Er be¬
schäftigt sich eingehend und einfühlend mit dem ärmsten
Bevölkerungsteil der Niederlande. 1965 erscheint seine Studie
De laagstbetaalden (Die Geringstbezahlten).
Es scheint, als sollte es Durlacher doch noch gelingen eine re¬
lativ „normale“ Existenz aufzubauen, speziell nachdem er
1959 seine Studienkollegin Anneke Sasburg heiratet und mit
ihr eine Familie gründet. Dann, 1978, stirbt die um acht Jahre
ältere Freundin und Schicksalsgenossin, die hochgeschätzte
Professorin Sonja Witstein, unter schrecklichen Qualen. An
ihrem Sterbebett erlebt Durlacher, wie die verdrängten
Gespenster aus den KZ-Jahren sie heimsuchen, und weiß nun,
daß er sich seinen furchtbaren Erinnerungen stellen muß. Dazu
sucht der inzwischen Fünfzigjährige kompetente ärztliche
Hilfe. Als kurz darauf eine literarische Zeitschrift ihn bittet, er
möge zwei neuerschienene Studien, The Terrible Secret von
Walter Laqueur und Auschwitz and the Allies von Martin
Gilbert rezensieren, brechen seine „Gefühle von damals, die
Angst und die Verzweiflung, die Ohnmacht und die Wut, der
Schmerz und die Trauer [hervor] ... wie Lava aus einem tot¬
geglaubten Vulkan.“ (Streifen, S. 7).
Aus der Buchbesprechung wird die ergreifende Erzählung
„Strepen aan de hemel“ („Streifen am Himmel“) von 1982. Sie
handelt von der verzweifelten Hoffnung und der nieder¬
schmetternden Enttäuschung der todgeweihten Häftlinge, als
alliierte Flugzeuge im August 1944 ihre Kondensstreifen über
Auschwitz ziehen, ohne die Gaskammern und Krematorien zu
bombardieren. Die sorgfältige Forschungsarbeit der beiden
Historiker, speziell Gilberts, bestätigt Durlachers verzehrende
Erinnerung, daß das Schicksal der Lagerinsassen den Alliierten
keine Bombe wert war. Berechtigt war also das niederge¬
schmetterte Empfinden der Häftlinge, daß sie „von Gott und
der Welt verlassen“ seien, und das ist, so meint Durlacher in
dem Vortrag „Die Sünde der Gleichgültigkeit“, ..das schlimm¬
ste Gefühl, das er kennt“ („De zonde der onverschilligheid“,
Verzameld werk, S. 513). Mit Recht wirft er im „Nachwort“ zu
Streifen am Himmel den Alliierten „nationalen Autismus‘ vor
(Streifen, S. 93).
Es gab jedoch auch während der Nazizeit einige wenige, die
nicht gleichgültig waren. Beispielhaft sind für Durlacher der
damalige König Christian X. von Dänemark und ein Großteil
von dessen Beamtenapparat und des dänischen Volkes über¬
haupt. Die von Durlacher zitierte Drohung besagten Königs, er
würde sich als erster den gelben Stern anheften, wenn die
Besatzer darauf bestünden, daß die dänischen Juden den Stern
tragen, hat sich zwar als apokryph erwiesen, dennoch ist hi¬
storisch bestätigt, daß die dänische Obrigkeit wichtigen
Einfluß auf die Geschehnisse nahm. Sie bestand z.B. auf einer
Internationalen Rote Kreuz-Inspektion des Konzentrations¬
agers Theresienstadt. Einige Folgen des dänischen Beharrens
auf dieser Rote Kreuz-Inspektion wurden Durlacher erst beim
Lesen von Gilberts Studie klar. Um den Inspektoren Sand in
die Augen zu streuen, ließ die deutsche Lagerführung in
Theresienstadt Verschönerungsmaßnahmen treffen. Im Zuge