Wut auf die Niederträchtigkeit ihrer Peiniger und auf die
Gleichgültigkeit der restlichen Welt. Mancher findet, wie
Durlacher selbst, einigen Trost in den schönen Künsten.
In diesem Bericht sowie in allen Erzählungen Durlachers tut
sich ein großes Spannungsfeld von ungelösten Fragen auf. Wie
kann der Überlebende die Inkongruenz zwischen seiner erd¬
rückenden Erinnerungslast und dem „normalen“ täglichen
Dasein überbrücken, ohne an diesen Erinnerungen irre zu wer¬
den und ohne sie zu unterdrücken? Dem steht gegenüber: Wie
begegnen wir, die Verschonten und die später Geborenen, den
überlebenden KZ-Opfern? Wie überwinden wir Mitmenschen
Scheu, Unbehagen, Ohnmacht und Schuldgefühl angesichts
derer, die durch die Hölle gegangen sind? Wie erproben wir
Verständnis für ihre Empfindlichkeiten mitunter auch in Bezug
auf bedrohende soziale und politische Entwicklungen?
Durlacher gibt uns kleine Fingerzeige. In allen seinen Bü¬
chern, den bereits erwähnten wie in den darauf folgenden kur¬
zen autobiographischen Erzählungen in dem Bändchen
Wunderbare Menschen: Geschichten aus der Freiheit (Qua¬
rantaine, 1994) und in dem noch nicht übersetzten Niet ver¬
staan von 1995, berichtet er in erster Linie prägnant von
niederschmetternden Erfahrungen nicht nur im Lager sondern
auch davor und danach. Diesen bösen Erinnerungen setzt er je¬
doch Beispiele von großer moralischer Ausstrahlung gegenü¬
ber, Beispiele vom Verständnis, der Hilfsbereitschaft und dem
Mut Einzelner, nicht nur vor und nach der Katastrophe sondern
sogar auch in den Lagern. An diesen Vorbildern kann der Leser
sich orientieren.
Durlachers informiertes Nachdenken über klar umrissene,
erneut durchlebte Schlüsselepisoden seines bewegten Lebens
findet Anklang. Seine Bücher werden gelesen und die Aner¬
kennung schenkt ihm Befriedigung. Es entstehen Filmstreifen
wie „Die letzten Zeugen“ von Cherry Duyns und „Die Heim¬
kehr“ von Thomas Mitscherlich. Man bittet Durlacher um
Interviews, Vorträge und Zeitungsbeiträge. Schreiben wird ihm
zum Bedürfnis. Es hilft ihm seine Gedanken und Gefühle zu
ordnen. Als er 1996 kurz vor seinem achtundsechzigsten
Geburtstag stirbt, ist er mit einem neuen Buch beschäftigt, des¬
sen Arbeitstitel ,, Van Tivoli tot Danang“ lautet. Frau Durlacher
hat das Fragment mit einigen kiirzeren Texten und den bereits
erschienenen fünf Büchern ihres Mannes ein Jahr später in ei¬
nem Band Verzameld werk (Gesammelte Werke) veröffent¬
licht. 1998 folgt ein Band mit Durlachers Interviews, Reden
und Zeitungsartikeln, dem Frau Durlacher den Titel Met haat
valt niet te leven (,,Mit Haß läßt sich nicht leben“), Zitat aus ei¬
nem Interview von 1995, gegeben hat (Met haat, S. 126).
Anlässe zu diesen Texten sind etwa der Tod des Schicksals¬
genossen Primo Levi im Jahre 1987 oder ein Literaturabend,
den Durlacher für in den Niederlanden Asylsuchende organi¬
siert. Ferner enthält der Band Durlachers Äußerungen zu
Gedenkfeiern, zum Beispiel zum 40. und 50. Jahrestag der
Befreiung der Niederlande.
In den posthum erschienen Schriften zieht Durlacher am
deutlichsten persönliche und politische Konsequenzen aus sei¬
nen Erfahrungen. So geht er in seiner kritische Betrachtung
„Erinnern ist Vorwärtsschauen“ anläßlich der Befreiungsfeiern
im Mai 1985 aus von dem überaus kühlen Empfang, der den
Überlebenden aus den deutschen und japanischen Lagern un¬
mittelbar nach dem Krieg in den Niederlanden zuteil wurde. Er
endet mit folgenden Worten: „Die Zurückgekehrten aus dem
Hades hatten und haben selten ein Gefühl der Anerkennung
oder des Verständnisses für ihren Aufenthalt im Schattenreich
empfunden.“ In diesem Zusammenhang wiederholt er den be¬
reits zitierten Passus aus Streifen am Himmel über die Unvor¬
stellbarkeit der Entmenschlichung in den Lagern und zieht
dann den Schluß: „Doch ist dieses Vorstellungsvermögen
äußerst wichtig. Nicht mehr für uns, sondern für alle, die nach
uns kommen. Nicht wegen der Geschichte, sondern wegen der
Zukunft. Das System hat nach Mai dem 1945 nicht aufgehört
zu bestehen. In vielen Ländern und unter vielen Regimes wu¬
chert dieser Krebs noch immer weiter fort. Oh Gott, möge es
aufhören!“ (Met haat, S. 17).
Durlachers Text aus dem Jahr 1993 zu dem Literaturabend
für Asylanten beginnt mit den Worten: „Ich kann mir so gut
vorstellen, wie heimatlos man sich fühlt in einem Land, wo
man die Sprache und die Kultur nicht kennt. Die Asylanten le¬
ben in einer vollkommen separierten Welt.“ Öffentliche
Besuchstage in Asylzentren bieten dafür keine Abhilfe. Im
Gegenteil. Das sei wie ein Besuch im Tiergarten, meint
Durlacher: „So etwas sollte vermieden werden, da es sich um
vollwertige Menschen handelt.“ Durlacher will das Seinige
dazu beitragen, „um die Barbarei abzubremsen. ... Gerade
jetzt müssen wir bremsen, denn wir rutschen ab. Die Gewalt
nimmt zu und die Lebensverhältnisse werden schlechter. Die
Spirale muß umgebogen werden. [Elie] Wiesel hat gesagt: ‚Die
schwerste Todsünde ist die Gleichgültigkeit.’ Allein schon für
diesen Ausspruch verdient er den Nobelpreis. Die große Gefahr
ist, daß die Menschen sich nicht auflehnen: wir finden es
furchtbar, aber wir verstehen das Elend doch nicht. Dieses