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küchen wurden langsam aufgelöst und durch finanzielle Hilfe abgelöst. Mit der Zeit sprachen die Flüchtlinge nicht mehr über die Essensversorgung, sondern über die Qualität des Essens. (...) 4. Die Besetzung durch US-Truppen brachten für viele die Chance auf einen neuen Job. Cafes, Restaurants, Unterhaltungsetablissements schossen aus dem Boden. (...) US-Arımy und -Navy hatten eigene Büros zur Aufnahme von Hilfskräften eingerichtet, und Schlangen von Flüchtlingen warteten tagelang davor, um einen Job zu bekommen. Bis März 1946 arbeiteten 1.269 Männer und 139 Frauen für die Besatzungstruppen, zusammen 1.408 oder 10,43 %, was später noch anstieg. Man brauchte Tischler, Fahrer, Schmiede, Mechaniker, Verwaltungspersonal etc. Viele taten diese Arbeit zum ersten Mal, doch immer wieder machte man mit den Flüchtlingen gute Erfahrungen. (...) 5. Nach dem Ende des Krieges gab es auch erste Anzeichen, daß etliche Länder wieder ihre Grenzen öffnen würden. Aus den USA trafen Affidavits ein, dann die ersten Einreisebewilligungen für Australien. Unsere Leute stürmten die Konsulate, und schließlich kam der Tag, an dem die erste Gruppe Shanghai verließ, um sich woanders anzusiedeln oder zu ihrer Familie zu reisen. Die Frage der Abreise wurde bald für die gesamte Gruppe immer aktueller und überlagerte sehr schnell alle anderen Gesprächsstoffe. 6. Alle Gerüchte über die Massenvernichtung der Juden in Europa wurden nach dem Krieg zu schrecklicher Gewißheit. Ich muß hier nicht den Zustand, die Gefühle und die psychische Verfassung jener beschreiben, die vom Tod ihrer Liebsten erfuhren. Das Ergebnis dieser Zerrüttung war die Erkenntnis innerhalb der Gruppe, daß sie ihr früheres Zuhause, die Orte ihrer Geburt und Jugend für immer verloren hatten und daß sie auch weiterhin vor allem eines waren: Displaced persons. Remigration hätte die Reise auf einen Friedhof bedeutet und das Leben mit Menschen, mit denen man nichts mehr zu tun haben wollte. An jedem anderen Ort der Welt konnten sie mehr Freunde, Verwandte bzw. neue Freunde finden als an dem Ort, der einmal „Heimat“ hieß. 7. Als Ende 1947 die UN-Resolution über einen jüdischen Staat proklamiert wurde, fühlten sowohl Zionisten als auch bisherige Nichtzionisten die weitläufige Bedeutung dieser Entscheidung. Menschen mit grausamen Erfahrungen, die durch brutale Gewalt sowie Heimat- und Staatenlosigkeit gegangen waren, klammerten sich an die Chance einer Zukunft in Sicherheit. (...) Wir schreiben jetzt Februar 1948, die Gruppe ist wieder kleiner geworden, nur mehr 7.000 Flüchtlinge leben hier. Wer heute durch die Straßen von Hongkew wandelt, sieht nicht mehr viel von der vergangenen großen Not. Man sieht saubere, wohlgenährte und gut gekleidete Menschen. Die meisten Lager wurden aufgelöst. (...) Nach wie vor gibt es ein lebendiges Gruppenleben, ein mit Hilfe der AJJDC organisiertes Jugendzentrum. Man findet noch die physischen Folgen des Leidens, aber nicht mehr die psychischen. (...) Das Leben hat sich normalisiert, aber normal wird es hier nie werden. Aus zu vielen ökonomischen, politischen und sozialen Gründen ist eine dauernde Integration hier unmöglich und auch die täglichen Gespräche drehen sich immer wieder um eine Frage: die neuerliche Emigration. (...) Felix Grünberger, geb. 10. November 1905 in Wien, Juni 1934 Promotion zum Doktor der Medizin an der Universität Wien, Sept. 1936 bis Juli 1938 Hausarzt im Erholungsheim „Wienerwaldhof“, Sepr. 1938-April 1939 Lagerarzt in einem Exilanten-Durchgangslager in Basel, Aug. 1939- Jänner 1941 Ambulanzarzt im CAEJR in Shanghai, Jänner 1941 - Jänner 1943 Hausarzt im „World Red Swastica Hospital for Nervous Deseases“ in Shanghai, Leitung Dr. Fanny Halpern, März 1943 -Dez. 1948 Abteilungsarzt für Neurologie und Psychiatrie am Shanghai Refugee Hospital, Feb. 1949— Dez. 1952 Praxis fiir Neurologie in Tel Aviv, wo er Estella Rhein geheiratet hatte, kehrte im Jänner 1953 nach Österreich zurück, arbeitete weiterhin als Neurologe und Psychologe, Freundschaft mit Viktor Frankl, lebte zuletzt im Moses Maimonides Heim und starb am 14. Jänner 1988. Felix Grünbergers 1948 auf englisch verfaßter Bericht erschien unter dem Titel ,, The Jewish Refugees in Shanghai“ im Okt. 1950 in den „Jewish Social Studies“ (Nr. 4 Jg. 12, S. 329-348). Sein Nachlaß befindet sich im Archiv des Jüdischen Museums Wien. Die von Marcus G. Patka übersetzten Auszüge erscheinen hier erstmals auf deutsch. 25