Bis in die 1990er Jahre von der Allgemeinheit und Holocaust¬
Historikern eher vernachlässigt, vielleicht auch mißverstanden,
wurde doch die Flucht mitteleuropäischer Juden, zumeist von
Österreichern und Deutschen, nach Shanghai ein Thema. Mit
„Exil Shanghai 1938 - 1947. Jüdisches Leben in der Emigration“
haben als Herausgeber Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck,
Sonja Mühlberger ein neuerliches Zeichen gesetzt, fast im Sinn
von „Der Weg ist das Ziel“. Im Vorwort prägt Arnold Paucker
(Leo Baeck Institute, London, das zusammen mit der Stiftung
Neue Synagoge Berlin das Werk sponserte), für Shanghai den
Begriff „einzigartiges Kapitel“ der Verfolgungen durch Nazi¬
deutschland. Die Bedeutung wird vom bekannten Wort des
Zeitzeugen Simon Wiesenthal: „Nach mir wird man es nur aus
Büchern kennen“ unterstrichen. In 19 Kapiteln incl. Vorwort plus
Abkürzungs-, Bild- und Personen-Verzeichnissen nebst ausführ¬
lichen Fubnoten und einer beigelegten CD-ROM bewegt sich das
Werk zwischen Erlebnisschilderung zum Teil durch „Shang¬
hailänderInnen“ (Eigendefinition) wie Mühlberger/Armbrüster
und Bewertung kultureller und politischer Aspekte sowie wis¬
senschaftlicher Interpretation. Auf der CD befindet sich die erst¬
malige Veröffentlichung der Namen der 14.800 von der
japanischen Fremdenpolizei registrierten Exilanten. Ungelöst
bleibt, wieviele genau sich nach Shanghai retten konnten. Sicher
ist, dab sich Nazideutschland mit allen Bemühungen ihnen im
fernöstlichen Exil noch zu schaden, nicht durchsetzte. Berlin war
durchaus erfolgreich, einen „japanischen Antisemitismus“ zu
schüren, den japanische Christen unterstützten, wobei nicht nur
deutsche Diplomaten, sondern auch Vertreter der Wehrmacht in
Tokyo eine Rolle spielten. Erwähnt im Buch sind auch publizi¬
Jüdisches Leben
in der Emigration
Mit Erstveröffentlichung von 14800 Eintragungen der
" Ausländerliste der japanischen Fremdenpolizei auf CD-ROM
Hg. Georg Armbrüster/ Michael Kohlstruck/Sonja Mühlberger.
Teetz: Hentrich & Hentrich 2000. 272 S., zahlr. Abb,,
beigefügte CD-ROM
stische Bemühungen der Nazis im Fernen Osten, bei denen der
später in der Bundesrepublik Deutschland zu hohen Ehren ge¬
kommene Klaus Mehnert als Journalist eine Rolle spielte. Zeit¬
weise beängstigten sogar Gerüchte über „japanische Ver¬
nichtungslager‘ die von den Japanern immerhin Ghettoisierten.
Die Zahl der Shanghailänder wird teilweise mit bis 30.000 an¬
gegeben und damit vermutlich übertrieben, die seriöserweise an¬
genommene Mitte liegt bei 18.000. Dab das „Exil in Shanghai“
nach Ende der Naziherrschaft zunächst ein Stiefkind der Zeit¬
geschichte blieb, mag auch darin begründet sein, dab die dortigen
Jüdischen Gemeinden kaum prominente Mitglieder aufwiesen
und man vom „Exil am Rande“ oder „Exil der kleinen Leute“
sprach, weil es die Prominenz der aus Nazideutschland
Vertriebenen eher in die USA oder Großbritannien zog.
Dort suchten sie, wenn auch nicht insgesamt erfolgreich,
Integration wenn nicht Assimilation, während sich Juden in
Shanghai auch durch die äuberen Umstände bedingt ein Ausmaß
an eigenem Kulturleben schufen. Man erwarte von der Rezen¬
sion keine Inhaltswiedergabe der Beiträge.
Das würde auch der teilweisen Emotion (darf ich „Hingabe“
sagen?) nicht gerecht werden, mit denen diese geschrieben wur¬
den. „Exil Shanghai“ muß man aufmerksam aufnehmen — man
kann es nicht „lesen lassen“. Es wäre unfair, einzelne Kapitel zu
empfehlen, wenngleich mich die Themenwahl von Helga Em¬
bacher/Margit Reiter aufhorchen lieb: „Geschlechterbeziehun¬
gen in Extremsituationen“ — Schicksale österreichischer und
deutscher Frauen — zu denen getaufte Jüdinnen, nicht-jüdische
Ehepartner oder zum Judentum Konvertierte zählten. Hier be¬
kommen menschliche Schicksale Bedeutung, die manche als
„Nebenaspekt“ sehen würden. Das Kapitel der Flucht zum ein¬
zigen Flecken des Globus, der sich nicht aus der Heimat vertrie¬
benen Juden („Heimatvertriebene“ waren nicht allein „arische‘“
Schlesier und Sudetendeutsche) verschlob, hatte ein noch weni¬
ger bekanntes und fast ironisches Nachspiel. War es von hohen
Schiffspassagekosten abgehsehen „relativ“ leicht nach Shanghai
zu kommen, war es nach Ende des Nazi-Schreckens schwierig,
den Zufluchtsort zu verlassen. Aus dem in erster Linie europäi¬
schen Dornröschenschlaf erweckt wurde das Thema ab den
frühen Neunzigerjahren durch „Shanghailänder-Treffen“ auch in
Shanghai selbst und in Salzburg, diverse Erinnerungsbücher,
Romane wie den von Michelle Kahn, Filme von Ulrike Ottinger
und Paul Rosdy/Joan Grossman sowie last but not least im
Sommer 1997 anläblich des 50. Jahrestages der Rückkehr einer
Gruppe Flüchtlinge nach Berlin vom Verein Aktives Museum
und dem Jüdischen Museum Berlin mit einer Ausstellung und
einem Symposium. Das Buch kostet ca. 600 Schilling. Jeder ein¬
zelne ist gut angelegt.
Alex Wachsmuth war ab 1950 Journalist bei den internatio¬
nalen Nachrichtenagenturen „Reuter’s“ und „Deutsche Presse
Agentur/dpa“ und als solcher in Österreich, Deutschland und
Israel tätig. Aus Israel berichtete er vom Prozeß gegen Adolf
Eichmann und leitete später von 1967 (Sechs-Tage-Krieg) bis
1977 das dortige Büro der dpa. Er hatte den Holocaust als
Verfolgter überlebt und ist mit dem Thema Shanghai durch eine
„Shanghailänderin“ (Tante) verbunden.