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kein Heim. Sie schliefen meist in den zahlreich vorhandenen Höfen. Hatten sie ein Zimmer, so lebten und schliefen sie dort in Gruppen. Kein Wunder, daß es bei solchen Zuständen keine Moral geben konnte. Viele Kinder kamen auf die Welt, aber viele starben auch gleich wieder. Harbin war damals eine russische Emigrantenstadt. Mit den Russen verstanden wir uns gut: gleiches Schicksal - allerdings in eine andere Richtung. Sie beteten für einen Sieg HitlerDeutschlands, um wieder in ihre Heimat zu kommen. Ich arbeitete nur für die Harbiner Juden. Sehr liebe Menschen, aber sehr schlechte Kunden. Ich arbeitete fast umsonst, selbst das war ihnen noch zu teuer. Immerhin hatten wir eine bescheidene Wohnung und lebten besser als so manche, die schon Jahre zuvor gekommen waren. Alle Europäer in China hatten einen sogenannten Boy, der kochte und sämtliche Hausarbeiten verrichtete — niemals taten dies die Frauen. Diese Boys, die Russen nannten sie „Wassili“, bezahlten sich selbst. Kein Europäer konnte so billig alles Nötige kaufen wie diese Boys. Vor dem Kauf mußte ja alles lang verhandelt werden. Nun sollten auch die Eltern meiner Frau nachkommen. Zuerst schrieben wir einen Brief an die deutsche Auswanderungsbehörde. Auf dem Briefkopf war mein Name gedruckt, darunter Juwelier und viele Filialen meiner großen bekannten Geschäfte. Ein Dolmetscher ging mit mir ins Rathaus, wo ein Beamter mit einem 10 x 10 cm großen Stempel auf Chinesisch beglaubigte. Natürlich kostete das einiges. Aber mit Geld konnte man bei den Chinesen alles kaufen. Die Eltern kamen aber nur bis Dairen mit dem Schiff. Die Japaner gaben ihnen keine Einreisebewilligung zu uns nach Harbin. Also packten wir unsere Koffer und fuhren zu ihnen nach Dairen. Dairen In Dairen erwarteten uns schon die Eltern. Sie waren in einem sehr guten Zustand, da sie von der jüdischen Gemeinde in einer Pension untergebracht worden sind und sich dort wohl fühlten. Etwa 25 Minuten Bahnfahrt von Dairen entfernt war Kakagaschi. Ein Urlaubsort am Meer mit einem schönen Sandstrand, wo sich reiche Menschen im Sommer erholten. Alle 30 Meter stand ein großer Kessel mit grünem Tee — gratis für alle. Es gab dort ein über hundert Meter langes Sonnendach. Im Winter war Kakagaschi vollkommen leer und daher die Mieten sehr günstig. So bekamen wir dort vom jüdischen Komitee eine kleine Wohnung. Ich begann zu arbeiten und pendelte zwischen Kakagaschi und Dairen. Anfangs ging es nicht gut, bis ich eine der reichen Damen als Kundin bekam. Es gab in Dairen einige sehr reiche Leute. Diese Frauen taten nur eines: sich pflegen und befehlen. Dieses Milieu war sich selbst ausschließlicher Gesprächsstoff. Die Damen waren sich 36 Friedrich Schiff: „Der Ruf des Ostens“. Aus: Gerd Kaminski: Chinesische Zeitgeschichte, $. 42 gegenseitig neidig und jede versuchte, im Mittelpunkt zu stehen. Einmal kam ein Violinspieler und gab ein Konzert im Theatersaal. Die komplette obere Klasse waren anwesend. Als der Spieler zum Ende kam, schlich sich seitlich eine dieser Damen auf die Stufen zur Bühne und verbarg sich hinter dem Musiker. Als dieser sich verbeugte, umarmte sie ihn stürmisch und küßte ihn lange auf den Mund. Tosender Beifall. Wochenlang sprach man noch in der Gesellschaft davon. Die Männer waren auch nicht besser — eine Frau kennenlernen und für sie sterben — aber nur bis zur nächsten. Theaterspielen war auch bei den Russen (Juden und Nichtjuden) sehr beliebt. Und so gab es auch Stars, die Hauptrollen spielten. Nachdem ich eine gute Kundin hatte, interessierten sich bald auch andere reiche Damen für meine Goldarbeiten. Man verlangte aber auch Dinge, von denen ich keine Ahnung und für die ich kein Werkzeug hatte, wie z.B. Eßbestecke. Durch meinen Boy fand ich eine gut ausgestattete chinesische Werkstatt mit tüchtigen Arbeitern. Ich saß manchmal mit den Arbeitern zusammen um ihnen zu zeigen, oder besser gesagt zu deuten, wie diese Gegenstände aussehen sollten, und es gelang recht gut. Die Kundin, die Arbeiter und ich waren zufrieden. Es gab hier auch eine deutsche Kolonie, aber wir mieden diese Menschen, weil wir Angst vor ihnen hatten. Dieses Gefühl war uns noch von Wien geblieben. Mit der Zeit verdiente ich ganz gut, ebenso meine Frau, die Deutsch unterrichtete. Es gab sogar eine Gruppe von einigen Schülern. Ich glaube, es waren acht. Meine Frau hat in Wien die Handelsakademie des Gremiums der Kaufmannschaft besucht. Die Schüler waren alle Japaner, hochintelligent. Meine Lebensmittelhandel auf offener Straße Foto: YIVO New York, Sammlung Paul Rosdy