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Leben die Tür zu verschließen“ (438) und
„Shanghai hat mich Geduld, Toleranz und
Solidarität gelehrt“ (437). Statt solche — aut¬
hentischen oder fiktiven — Selbstaussagen zu
problematisieren, wie es dem Gegenstand an¬
gemessen wäre, läßt Kahn ihren Helden we¬
nige Seiten später fast 80jährig friedlich in
einer einsamen Bucht Macaos verschwinden,
wobei ihr noch eine vermutlich unbeabsich¬
tigte Faust-Adaption gelingt. Beschließt
Geothe das Leben seiner Figur mit den
Worten edler Einfalt „Die Uhr steht still, der
Zeiger fällt“, endet Kahns Werk mit dem
schrägen Bild: „Die jetzt unbeweglichen
Zeiger haben ihren letzten Reigen auf dem
Jadezifferblatt der Uhr getanzt.“ (471)

Michele Kahns Roman ist Unterhal¬
tungsliteratur im eigentlichen Sinne: die
Identifikationsmodelle sind eingängig, die
Kulissen anregend exotisch und die Figuren ty¬
penhaft. Wirklichkeitsnahe Probleme entwick¬
lungspsychologischer, erotischer, sozialer und
politischer Art werden zugänglich und ein¬
sichtig dargestellt, der geringe stilistische
Aufwand sorgt für leichte Lesbarkeit. Kahns
Zielgruppe wird den Roman nicht mit authen¬
tischen Berichten von Zeitzeugen vergleichen
und so dem Unbehagen entgehen, das sich bei
dieser kolportagehaften light-Version des
Überlebens in Shanghai einstellen kann. Auch
wenn die Legitimität der Fiktionalisierung un¬
bestritten ist, gelten auch für die documentary
novel literarische Qualitätsmaßstäbe. Das
Verdienst des Romans wird sein, das Thema
Exil in Shanghai einem breiten Publikum be¬
kannt zu machen und damit eine Reichweite
zu erlangen, die historiographische Dar¬
stellungen und Autobiographien nie errei¬

chen.
MPH

Michele Kahn: Shanghai. Roman. Aus dem
Französischen von Stefan Linster. Berlin:
Ullstein 1997. 478 S.

Zwischen Theben und
Shanghai. Ein Symposium und
seine Dokumentation

Das fünfte Forum der Else-Lasker-Schüler¬
Gesellschaft in Wuppertal, im Jahre 1997,
stand unter dem Motto „Flucht in die Freiheit“
und befaßte sich genau ein halbes Jahrhundert,
nachdem die Hitler-Flüchlinge Shanghai ver¬
lassen hatten, mit diesem denkwürdigen und
zu wenig bekannten Kapitel der Exil¬
geschichte: mit Shanghai als dem Fluchtort
deutscher und österreichischer Juden und
Verfolgter der NS-Diktatur. Ergänzt wurde
dieses Thema durch einen aufschlußreichen
Blick auf das Exil in Indien, das Fluchtziel
von Willy Haas, dem Herausgeber der in den
Zwanziger Jahren bekannten Zeitschrift
Literarische Welt. Jürgen Serke zeichnet ein

liebevolles Portrait des in der frühen
Bundesrepublik einflußreichen Kritikers, ei¬
nes „Literaten“ im letzten Sinne des Wortes.
Ein Schwerpunkt war das Exil chinesischer
Autoren der Gegenwart. Dazu waren eingela¬
den und hielten Vorträge verfolgte Intellek¬
tuelle aus dem heutigen China, verbunden
sowohl mit Else Lasker-Schüler wie den
„Shanghailändern“ durch die Erfahrungen
des Exils. Unter dem Titel Zwischen Theben
und Shanghai liegen die Vorträge des
Wuppertaler Forums nun gedruckt vor, erwei¬
tert durch Texte emigrierter Dichter und an¬
gereichert durch Briefe und Miszellen des
Herausgebers Hajo Jahn, des Vorsitzenden der
Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft.

Auf breiter Palette werden die unterschiedli¬
chen Lebens- und Exilschicksale vorgestellt.
Die Texte ergeben zusammen ein höchst far¬
biges, informatives Bild dieses eigentümli¬
chen Fluchtpunktes in Asien, der neben Paris,
London, New York und Kalifornien die grö߬
te Anzahl deutscher und österreichischer
Juden unter allen weiteren Exilorten beher¬
bergte. Einige der offenen Fragen, deren
Beantwortung der in Shanghai geborene
Schriftsteller Peter Finkelgruen einklagt, wer¬
den in diesem Band bereits behandelt. So liest
man einen kritischen Bericht über die „richti¬
gen“ Deutschen in Shanghai, jene, die frei¬
willig in China lebten, von einem, der dazu
gehörte, Werner Noll.

Eine aufschlußreiche Untersuchung von
Astrid Freyeisen über „Nazi-Organisationen
in Shanghai“ stützt sich auf Studien vor Ort in
Shanghai und Peking und auf Material aus
deutschen Archiven. Die Autorin belegt das
erschreckende Maß an Macht und Einfluß der
verschiedenen NS-Organisationen und Amts¬
träger, selbst hier, weit weg von Deutschland,
die Anpassungsbereitschaft deutscher Diplo¬
maten und die mangelnde Zivilcourage der
rund 2.500 in Shanghai lebenden „Auslands¬
deutschen“. Ihr Fazit: Die Geschichte des
Nationalsozialismus in Shanghai sei gekenn¬
zeichnet „von einer weit verbreiteten Haltung
des Mitläufertums“. Sie sei ein Beispiel dafür,
„wie ein relativ kleiner Personenkreis das
Verhalten einer zahlenmäßigen Mehrheit steu¬
ern kann ... und der Mehrheit so das Gefühl
gegeben wird, machtlos zu sein“ (65). Wie
viel terra incognita noch vor der Exil¬
forschung zu bearbeiten ist, wird deutlich an
dem in vielen Beiträgen beklagten Fehlen von
Quellen und der schwierigen Einsichts¬
möglichkeiten in chinesische, japanische und
deutsche Dokumente, wodurch manche
Sachverhalte bis heute unklar bleiben müssen.
Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in den
so sorgfältigen Arbeiten wie den von Astrid
Freysein zu den NS-Organisationen oder für
die interessante Untersuchung Michael
Philipps über „Exiltheater in Shanghai 1939¬
1947“.

Gesicherte Erkenntnisse fehlen etwa auch
über die Rolle Erwin Wickerts, des späteren
Botschafters der BRD in China, für den die
Nazis Shanghai eigens den Posten eines

Rundfunkattaches kreierten und über dessen
Haltung zum NS-Regime die Meinungen bei
der Wuppertaler Tagung heftig auseinander¬
gingen. Das gilt ebenso für die historisch be¬
deutsame Frage der geplanten Einrichtung
von Konzentrationslagern und der Rolle der
Japaner dabei wie für Konzepte zur Ver¬
nichtung der Shanghaier Juden, wozu zwar
überzeugende mündliche Aussagen existieren,
aber bisher keine schriftlichen Beweise.

Wie überall auf der Welt, wo jüdische
Emigranten und andere Gegner des NS-Staates
Zuflucht gefunden hatten und so dem unmit¬
telbaren Zugriff der Nazis entkommen waren,
entstand auch in Shanghai bald ein reges gei¬
stiges und künstlerisches Leben. Es bleibt für
uns Nachgeborene immer wieder erstaunlich
und bewunderungswürdig, mit wieviel unge¬
brochener Energie und idealistischem En¬
gagement sich die Exilanten kulturellen
Aktivitäten zuwandten, Theatergruppen grün¬
deten, Konzerte organisierten, Lesungen ver¬
anstalteten, Ausstellungen arrangierten, sich in
Clubs und Gesellschaften zusammenschlos¬
sen, um ihr geistiges Erbe lebendig zu erhalten
und ihren Überlebenswillen zu dokumentieren.
Michael Philipp spricht von etwa 200 bekannt
gewordenen Namen zwischen 1939 und 1947
allein in den Bereichen der Darstellenden
Künste, ebenso zahlreich müssen auch
Bildende Künstler vertreten gewesen sein,
wenn auch bisher nicht einzeln nachgewiesen.
Wenn sich darunter auch keine bedeutenden
Namen fanden, wie in den bevorzugten
Exilländern, etwa der Schweiz, den USA oder
Mexiko, so überrascht doch die Menge und
Vielfalt der Produktion. Der Theatermann
Alfred Dreifuß spricht von der „kleinbürgerli¬
chen“ Emigration nach Shanghai, die weder
politisch homogen wie diejenige in die
Sowjetunion, noch gekennzeichnet gewesen
sei durch bedeutende Vertreter des deutsch-jü¬
dischen Geisteslebens — eben „eine Emigration
am Rande“ (115). Gerade hier bestand die
Funktion der künstlerischen Produktion und
der kulturellen Aktivitäten vor allem darin,
Überlebenshilfe zu geben und sich der eigenen
Identität zu vergewissern, mehr als in anderen
Teilen der Welt, wo eine Akkulturation leichter
fallen konnte als im chinesischen Shanghai.
Verdienstvoll ist die Herausgabe von Werken
des zu Unrecht vergessenen Max Mohr durch
den Verleger Stefan Weidle, der hier unter dem
Titel „Splitter aus einem Leben“ eben diesen
Max Mohr und sein Exilschicksal als Arzt und
Schriftsteller vorstellt, wozu ihm der Nachlaß
Mohrs zur Verfügung stand. Die Zitate aus den
bewegenden Briefen an seine in Deutschland
zurückgebliebene Frau Käthe und ein langer
Bericht an eine ärztliche Standesorganisation
in Deutschland aus dem Mai. 1935 zeigen die
bedrohlichen und bedrückenden Seiten des
Shanghai-Exils, dessen Leiden und Ent¬
behrungen dann auch zu Mohrs frühem Tod
führten. Ein besonders anrührendes Erin¬
nerungsdokument an ihn und vor allem auch
an seine Frau stellt der Film Wolfsgrub dar, den
Nicolas Humbert, der Enkel, über die Familie

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