Obwohl Timo, ein chinesischer Student, den ich in Wien ken¬
nengelernt hatte, den Anstoß für meine Reise nach China ge¬
geben hatte, war mir schon in Wien die Ahnung aufgestiegen,
daß ein wesentlicher Anreiz von China selbst, dem Land einer
jahrtausendealten Kultur, ausging. In Wien hatte ich vor mei¬
ner Abreise meinem Studienkollegen Ridi Kobler geantwortet,
ich wüßte selbst nicht mehr, ob ich nach China fahren wolle,
nur um meine Beziehung mit Timo zu überprüfen, oder ob es
nicht viel mehr das Land sei. Ridi hatte damals voller Spott ge¬
lacht: Es wäre an mir, herauszufinden, was ich am anderen
Ende der Welt suche — ein Liebesabenteuer oder eine Nische,
in der ich mich heimisch fühlen könnte ...
Da ich nun einmal da war - ich war am 2. Oktober 1933 an¬
gekommen -, sollten mir meine eigenen Entdeckungen zeigen,
was daran sei: Hic Shanghai, hic salta! Ich mußte nur den Mut
aufbringen, meine Anpassungsfähigkeit an dem neuen, unbe¬
kannten Element zu erproben.
Timo war nur noch drei Wochen in Shanghai, bevor er in di¬
plomatischen Diensten nach Tokyo abreiste. Glücklicherweise
kann ich mit Tatsachen zurechtkommen, wenn ich sie einmal
erkannt habe. Und es fanden sich genügend Gründe, die dar¬
auf hinwiesen, daß die große Liebe nur eine Illusion meiner¬
seits gewesen war.
Etwas allerdings hatte Timo für meinen Verbleib getan: Er
hatte mich seinen Freunden vorgestellt, sie sollten mir weiter¬
helfen. Und das taten sie auch — Freundschaft wird in China
immer großgeschrieben. Da ich ja journalistisch tätig sein
wollte, mußte ich Redakteure kennenlernen, der wichtigste war
wohl Hollington Tong, der die englischsprachige „China
Press“ herausgab. Obwohl ich für Wiener Zeitungen schreiben
sollte, mußte ich doch einen lokalen Halt haben — und durch
Holly, wie man ihn unter ausländischen Fachkollegen nannte,
wurde meine Wenigkeit für Shanghai akzeptabel. Wie sein aus¬
ländisch klingender Vorname andeutete, war Mr. Tong in den
USA ausgebildet worden und sprach Englisch wie seine
Muttersprache. Unter gebildeten Chinesen war es üblich, sich
durch einen Vornamen, der eventuell etwas an den chinesi¬
schen anklang, von gewöhnlichen Sterblichen zu unterschei¬
den. Die britische Zeitung vor Ort war die „North China Daily
News“, und selbst die hatte in ihrer Sonntagsnummer nach
meiner Ankunft ein Foto von mir gebracht — Ausländer, die
nach Shanghai kamen, die Ergebnisse der letzten Pferderennen
und dergleichen mehr wurden in einer rosaroten, vier Seiten
umfassenden Beilage gebührend vermerkt.
Ich fing auch bald an, Chinesischunterricht zu nehmen, bei
einem Lehrer aus der Provinz Shandong. In jenen Zeiten gab
es nicht sehr viele Ausländer, die Chinesisch lernen wollten, in
Shanghai konnte man sich bei Geschäftsleuten, Rikschafahrern
usw. mit „Pidgin-Englisch“ behelfen, eine Sprache, die den
Einheimischen von den Kolonialherren beschert worden war;
Shanghai war der Ort, wo man Pidgin-Englisch am besten ler¬
nen konnte. Sprachen zu lernen machte mir niemals große
Schwierigkeiten, in Shanghai gab es viele russische Geschäfte,
von eleganten Pelzwarenhändlern bis zu kleinen Delika¬
tessenverkäufern. Da ich mir schon in meiner Jugend um¬
gangssprachlich Polnisch und Ukrainisch angeeignet hatte,
lernte ich ziemlich schnell, auf Russisch einzukaufen — es gab
rote Rüben mit Kren verrieben, Topfen und ähnliche schöne
Dinge, die mir bekannt und vertraut waren. Doch war ich nicht
zum Essen nach China gekommen. Also schaute ich mich nach
Themen um, über die man nach Wien berichten konnte. Aber
kaum hatte ich mit meiner Berichterstattung angefangen, war
meine Tätigkeit schon beendet — durch Intervention des japa¬
nischen Generalkonsulats! Offenbar durfte man kein gutes
Wort über China schreiben, ohne daß Japan indigniert war, und
wenn es nur über Eßgewohnheiten war. Eigentlich störte mich
dieses vorläufige Scheitern in meinem eigentlichen Beruf nicht
so sehr. Ich wollte ja sehen und erleben, mußte verstehen ler¬
nen, bevor ich beschreiben, erklären konnte. Und da gab es so
vieles, worüber man ja gar nicht schreiben konnte, so un¬
glaublich schien es.
Ich hatte das Glück, durch eine zufällige Bekannte in einen
Kreis von Ausländern zu geraten, der nicht aufs Geldmachen
und Ausbeuten eingestellt war — Leute, die sich regelmäßig bei
Rewi Alley trafen, einem Neuseeländer, der damals Fabriks¬
inspektor beim Municipal Council im International Settlement
war. Um ihn sammelten sich einige Frauen, die YWCA¬
Sekretärinnen waren; auch Rewis Chefin war eigentlich aus
der Young Women’s Christian Association hervorgegangen.
Auch eine chinesische YWCA-Dame, die fließend englisch
sprach, gehörte zu der Runde, ferner ein oder zwei chinesische
Männer, die ebenfalls soziale Interessen hatten. Ohne es zu
wissen oder zu wollen, hatte ich den idealen Boden gefunden,
aus dem das richtige Verständnis Chinas fließen konnte! Das
erste verständnisheischende Ereignis war ein Schock, der all
die Jahrzehnte hindurch nicht an Kraft verloren hat: Rewi
Alley führte mich und Julius Tandler, den Anatomieprofessor
aus Wien, der mit demselben Schiff wie ich nach Shanghai ge¬
kommen war und als Berater am Roten-Kreuz-Krankenhaus
tätig war, durch eine Reihe von Fabriken, die er regelmäßig zu
inspizieren hatte. Obwohl regelrechte Produktionsbetriebe in
diesen Bruchbuden, die kaum als Wohnraum bewertbar waren,
ihr Unwesen trieben, konnte keine Inspektion, kein Ratschlag
für bessere Bedingungen fruchten, die Besitzer konnten, wenn
sie wollten, sich nach Rewi Alleys Rat richten, mußten es aber
durchaus nicht. Nicht nur, daß die Arbeitsbedingungen men¬
schenunwürdig waren, die Arbeiter schliefen oft direkt neben
den Maschinen, an denen sie arbeiteten, oder bestenfalls zu¬
sammengepfercht auf Brettern, die wie ein Taubenschlag über
dem Arbeitsraum angebracht waren. Es war unbegreiflich, wie
die Menschen das in der Shanghaier Sommerhitze aushalten
konnten! Nach und nach erfuhr man auch, daß kleine Kinder
in Seidenspinnereien an dampfenden Kesseln standen, um den
Seidenfaden abzuwickeln, Arbeiterinnen ihre Babys mit¬
brachten und sich noch glücklich schätzen durften, wenn ihnen
das erlaubt war. Oft kam es vor, daß schwangere Arbeiterinnen
einfach entlassen wurden, aus den Hungergebieten kam immer
neuer Zustrom! Shanghai hatte die meisten Industriebetriebe,
Besitzer waren Chinesen, Japaner, auch westliche Ausländer —
Briten vor allem. Gewerkschaften waren streng verpönt,
Aufseher gingen herum und traktierten Aufmüpfige, die einen
Moment verschnaufen wollten, mit Stockschlägen. Durch die
Gruppe um Rewi Alley erfuhr man auch, daß die YWCA sich
bemühte, den Arbeiterinnen, die in Spinnereien und Webereien