OCR
die Mehrzahl der Belegschaft stellten, ein menschenwürdigeres Leben zu bereiten, indem man ihnen Lesen und Schreiben beibrachte. Das bedeutete, daß die Frauen nach einem langen Arbeitstag noch ein bis zwei Stunden lernten — bewundernswert, wie sie das schafften! Trotz der Enttäuschung mit den Wiener Zeitungen ließ sich das Leben in Shanghai ganz vergnüglich an. An meinem 1. Geburtstag in Shanghai — 11. Dezember - lernte ich auf einer Party den Generalsekretär der Bank of China kennen, Dr. T.C. Dai. Durch den Freundeskreis um Rewi Alley konnte ich mein gesellschaftspolitisches Wissen — das in Wien eher durch eine gefühlsmäßige Sympathie für die Werktätigen gekennzeichnet war — erweitern. Aber selbst T.C. Dai, der sich väterlich um mich kümmerte und mich zu allerhand Parties einlud, trug dazu bei! Konnte Rewi Alley die himmelweiten Klassenunterschiede in der chinesischen Gesellschaft klarmachen, wurden sie durch T.C. Dai wirtschaftlich untermauert. Zu Beginn des Jahres 1934 bot sich mir ein neues Feld für soziologische Studien — neue Bekannte hatten mir eine Stelle als Lehrerin an der Shanghaier jüdischen Schule verschafft. Diese Anstalt war in vieler Hinsicht ein Unikum. Die Schule war eine Gründung von Juden aus dem arabischen Raum, die in Shanghai reich geworden waren. Namen wie Sassoon, Hardoon und Kadoorie waren die wichtigsten darunter. Ihr Reichtum schrieb sich von Grundstücksspekulationen her, bei manchen wurde auch vom Handel mit Opium gemunkelt. Nach der Revolution in Rußland 1917 kamen viele jüdische Familien nach Harbin und Shanghai. Die meisten von ihnen waren auf ihrer Hände Arbeit angewiesen, nur wenige verfügten über die nötigen Geldmittel, um Geschäfte aufzumachen. Mildtätige Spenden taten daher not, besonders wenn es um die Erziehung der Kinder ging. Russische Juden repräsentierten so ziemlich die unterste Schicht von Ausländern in Shanghai — die Männer waren meist als Chauffeure, Nachtwächter und ähnliches mehr beschäftigt. Die Kinder, die die jüdische Schule besuchten, hatten oft nur eine warme Mahlzeit am Tag — das Mittagessen in der Schule. Die Schulvorsteherin war eine alte Jungfer, die nichts zu sagen hatte. Das Sagen hatte Rabbi Brown. Er führte mich auch in meine Obliegenheiten ein. Ich hatte alle Fächer zu unterrichten, und der Lehrplan war der von England! Außerdem nötigte mich Rabbi Brown, auch Hebräisch zu unterrichten, wobei ich den Schülern gerade noch eine Nasenlänge voraus war. In Wien hatte ich ein Jahr lang modernes Hebräisch gelernt, in meiner Schulzeit im Religionsunterricht die Gebete gelernt. Da manche der Schüler aus orthodoxen Familien kamen, war ihnen Hebräisch viel vertrauter als mir. Daß russische Kinder in Shanghai nach englischem Lehrplan Geschichte und Arithmetik lernen sollten, war bizarr. Von ihrer chinesischen Umgebung erfuhren die Kinder nichts, dafür aber von Stonehenge. Wenn die Buben sich ungehörig betrugen, konnten sie zu Rabbi Brown hinunter geschickt werden, der ihnen nach gut englischer Manier eine Tracht Prügel verpaßte, „caning“ hieß das. In dem Halbjahr, in dem ich an dieser Schule tätig war, ließ ich die Buben in mei39