Lu Xun schied am 19. Oktober 1936 dahin, bloß 55 Jahre alt!
Daß er lange schon an Tuberkulose litt, hatte ich von Agnes
Smedley erfahren. Sie und andere hatten ihn überreden wollen,
in die Sowjetunion, auf die Krim zur Erholung zu gehen, aber
es gelang ihnen nicht. Seit ich ihn kennengelernt hatte, war ich
ihn wohl einige Male besuchen gegangen; am 8. Oktober,
knapp elf Tage vor seinem Ableben, hatte ich ihn noch auf ei¬
ner Holzschneider-Ausstellung gesehen, die jungen Künstler
umringten ihn freudig und fragten nach seinem Urteil, niemand
dachte daran, daß es das letzte Mal war! Der Tod Lu Xuns war
auch für mich eine Zäsur. Wenn meine Kenntnisse Chinas und
der Sprache auch gering waren, hatte ich in den drei Jahren
meines Aufenthaltes doch viel dazugelernt und begriffen, daß
das Ableben eines solchen Menschen für das Land einen un¬
ersetzlichen Verlust bedeutete. Die Halle, in der Lu Xun aufge¬
bahrt lag, wimmelte von erschütterten, weinenden Menschen.
Obwohl Lu Xun den Behörden ein Dorn im Auge war, ließen
es sich ungezählte Leute nicht nehmen, ihm die letzte Ehre zu
erweisen, zu zeigen, daß auch sie zu den neuen Kräften dieses
alten Landes gehörten. Unter den Trauernden war der Japaner
Wataru Kaji, der sich Schüler von Lu Xun nannte. Versteinert
vor Schmerz saß der junge Mann da, regungslos. Er gehörte
nicht zu den aggressiven Kräften Japans, für ihn war Lu Xun
der Lehrmeister aus dem benachbarten Land China, das Japan
so viele Anregungen gegeben hatte. Die Einzige, die nicht
weinte, war die Witwe Lu Xuns, Xu Guangping. Sie war sei¬
ne Schülerin gewesen, als die Studentinnen an der Mäd¬
chenschule in Peking in den Zwanzigerjahren gegen
ungebührliche Beschränkungen demonstriert hatten und Lu
Xun sie unterstützte, obwohl der Terror auch ihn treffen hätte
können, so wie er einige junge Mädchen tödlich getroffen hat¬
te. Damals hatte Lu Xun mit seinem Essay „Rosen, ohne zu
blühen dahingesunken“ die Regierung Duan Oiruis angepran¬
gert, der auf wehrlose junge Menschen schießen ließ, und den
Essay unterzeichnet: „geschrieben am 18. März 1926, dem dü¬
stersten Tag in China seit Gründung der Republik“.
Als Lu Xun dann Peking verließ, um nach Amoy im Süden
an die dortige Universität zu gehen, blieb auch Xu Guangping
nicht länger — sie ging nach Kanton (Guangzhou), wohin Lu
Xun ebenfalls kam, zur Zeit, als Tschiang Kaischek sein
Massaker gegen Linksgerichtete entfachte.
Durch seinen Tod wurde das Land in tiefste Trauer versetzt,
aber Xu Guangping sagte zu mir wie zu allen anderen, die in
Tränen zerflossen: „Es ist nicht Zeit, ihn zu beweinen, wir
müssen sein Vermächtnis weiterführen!“ Ich las, was in der
„Voice of China“ zu Lu Xuns Tod publiziert wurde — von al¬
len Ecken und Enden des Landes kamen Zuschriften, die Lu
Xun würdigten und sich verpflichteten, gleich ihm für die
Freiheit und Unantastbarkeit Chinas zu kämpfen. Es war er¬
hebend zu sehen, welchen Einfluß ein einziger Mensch haben
konnte, der sich mit seinen Landsleuten identifizierte, auch
wenn er ihnen manchmal nichts Gutes zutraute ... In seinen
letzten Jahren hatte Lu Xun erkannt, daß nur die Kommunisten
in China eine lebenswerte Zukunft zu bieten hatten. Und Lu
Xun hatte auch den Mut, diese seine Anschauung offen kund¬
zutun.
Was hatte ich nicht alles dazugelernt in den Jahren, die ich
in Shanghai war! So viele Menschen hatte ich gesprochen, die
vielleicht sogar als Philanthropen galten, den chinesischen
Werktätigen aber absolut ablehnend gegenüberstanden, wie
Relly, die Tochter meiner Wirtsleute, die beim Anblick eines
schlafenden chinesischen Kindes vor einem geschlossenen
Geschäft sagen konnte: „No, was ist da schon dabei? Ist doch
bloß ein Chinese!“ Die Ausländer in Shanghai schienen nicht
zu bemerken, daß ein Riesenvolk begann, sich langsam als eine
Nation zu fühlen, und daß sogar die Werktätigen in ihrem
Elend sich gegen die japanischen Aggressoren stellten.
Im Sommer 1937 hatte ich eigentlich vor, nach Hause zu
fahren, war ich doch schon vier Jahre in Shanghai — anfänglich
hatte ich meinen Eltern von einer sechsmonatigen Studienreise
gesprochen! Aber diesmal wollte ich keine Seereise mehr ma¬
chen, sondern mit der Transsibirischen Eisenbahn europawärts
gondeln. Und wieder mischte sich der Zufall ein, gerade als ich
den Brief an meine Eltern mit der Mitteilung, daß ich zurück¬
kommen würde, abgeschickt hatte, bekam ich das Angebot, ins
Innere Chinas, in die Provinz Sichuan zu gehen, wo ich halb
Deutsch unterrichten, halb als Sekretärin beim methodistischen
Bischof Ralph A. Ward arbeiten sollte. Mein Gedankengang
war: Wenn ich schon vier Jahre da bin, spielt doch ein Jahr
mehr oder weniger keine Rolle. Daß es dann doch eine Rolle
spielte, war durchaus nicht meine Schuld.
Die hier veröffentlichten Textpassagen über Ruth Weiss’
Aufenthalt in Shanghai zwischen September 1933 und dem
Sommer 1937 stammen aus ihrer bislang unveröffentlichten,
1995 in Beijing abgeschlossenen Autobiographie — Bericht
„einer langen Reise, zu der ich 1933 angetreten bin“. Die
Bearbeitung stammt von Ulrike Oedl, die auch die folgenden
biographischen Anmerkungen zu Ruth Weiss, Rewi Alley und
Agnes Smedley verfaßt hat.
Ruth Weiss wurde am 11.12. 1908 als einzige Tochter eines jü¬
dischen Ehepaars im Wiener Sanatorium Hera geboren.
Kindheit und Jugend verbringt sie zum größten Teil in
Klosterneuburg, wo sie auch das Gymnasium besucht. Nach
dem Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in
Wien beschließt sie im September 1933, für einige Monate nach
Shanghai zu reisen, um dort als Journalistin zu arbeiten. Nach
dem „Anschluß“ Österreichs 1938 wird Ruth Weiss zur
Exilantin. Illusionen über das wahre Gesicht der nationalsozia¬
listischen Herrschaft hat sie keine. Bereits 1937 macht sie
Bekanntschaft mit dem enggespannten und auch im fernen
China funktionierenden Spitzelnetz der Nazis: „Im YMCA
(Young Men’s Christian Association) für Ausländer gab es jeden
Donnerstag abend eine Debatte zu aktuellen Themen. Ich nahm
in der Form daran teil, daß ich zufällig das Nazi-Programm, von
Konrad Federn beschrieben, aus Europa mitgebracht hatte und
nun darlegte, was Hitler den Werktätigen versprochen und nicht
gehalten hatte, während er den feinen Herren Thyssen, Krupp
usw. zu Diensten stand. Für mich war es eine Debatte wie die
andere, auch wenn das Thema ein Hieb gegen die Nazi¬
Herrschaft war. Aber eines Tages erfuhr ich, daß es für mich
brenzlig war ... Meine Mutter hatte mir mit einer Bekannten ein
Paket mitgeschickt, ich war mit Relly, einer Freundin, am Hafen,
um die Person bei der Ankunft zu begrüßen und das Paket ent¬
gegenzunehmen. Als wir so warteten, bis das Schiff einlief, stell¬
ie mir Relly einen Herrn vor, der so tat, als würden wir uns
kennen. Ich meinte dagegen, ich könnte mich nicht erinnern, ihn
vorher getroffen zu haben. Da sagte der junge Mann: ‚Haben sie
nicht vor kurzem im YMCA zur Debatte gesprochen?’ Ich sagte,
das tue ich öfters, und da kam die überraschende Antwort: ‚Wir
Deutschen in Shanghai kennen Sie!’ Offensichtlich meinte er das
als Drohung. Mir konnte das nicht viel anhaben, aber ich dach¬