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ungebührlichen Benehmen in Rage. Nach einer guten halben
Stunde spricht die Richterin E.G. schuldig im Sinne der
Anklage. Angesichts ihrer Jugend wird ihr eine Probezeit von
zwei Jahren gewährt. Sollte sie in diesem Zeitraum erneut
straffällig werden, so wird auch in dem gegenständlichen
Verfahren eine Strafe ausgesprochen und exekutiert. Übrigens:
Der Vergewaltiger von E.G. ist in seinem Prozeß freigespro¬
chen worden.

ENTWURF ZU EINEM STÜCK; AUTOR: WALTER KOHL
_ ritzen
1 Stimme

Eine junge Frau in einem Raum, auf einem Tisch ein PC. Die
Frau ritzt mit einem scharfen Gegenstand schwach blutende
Wunden in ihren linken Unterarm. Sie spricht:

Geht am besten mit dem Stanley-Messer. Haben die aber als
erstes versteckt. War kein gutes Versteck, hab das Versteckte
bald gecheckt, dann haben sie weggesperrt, dann haben sie
weggeschmissen. Muß nicht unbedingt Stanley sein, aber
Stanley sind am besten. Scharf, ja, scharf ist wichtig. Normales
Messer schneidet da nichts. Bic-Rasierer ist das zweitbeste.
Mußt zerbrechen, geht ganz leicht, das Plastik knackst wie eine
Erdnuß. Das dünne Stahlband ist gefährlich. Mußt aufpassen.
Kannst leicht die Finger zerschneiden. Aber wenn du es her¬
außen hast, ist es fast so gut wie mit dem Stanley.

Typen. Der Michi hat’s auch getan, manchmal. Ein paarmal ha¬
ben wir es zusammen gemacht. In seiner Bude. Weiß nicht, ob
er es gemacht hat aus Liebe zu mir, oder ob er es alleine auch
‚schon getan hat, muß ich ihn fragen, wenn er wieder raus¬
kommt. Aber eigentlich macht es jeder. Die Mädchen sowie¬
so. Wenn du wo hingehst, ins Davinci zum Beispiel, oder ins
Kilimandscharo, im Sommer, und es ist heiß, da mußt du nur
gucken: Wer hat bei der Hitze was mit en Ärmeln an? Und
das sind die, die’s machen.

Es tut nicht weh. Spürst du nichts. Ein Keinen Ritsch, und
rot bist du. Nein, stimmt nicht. Tut schon weh. Soll ja weh tun.
Weißt erst, daß es dich gibt, wenn du spürst. Tut gut, wenn es
weh tut. Kannst weinen, wenn es weh tut. Wenn weh tut, wei¬
nen Mädchen. Bin jetzt ein kleines kleines Mädilein und darf
ganz viel weinen tun. Nein danke. Bin eine, die nicht weint. Ist
ein Übergang, sagen die Alten, die dummen Alten. Ist Über¬
gang. Da innen, dort außen. Muß das eine zum anderen hinaus
und das andere zum einen hinein können, ist aber keine
Durchfahrt gestattet, mußt zuerst eine Ritze machen in die
Mauer, schlitz es auf, das Glitschhautding, dann kann das Raus
rein und das Rein raus. Jetzt siehst du von draußen hinein und
von drinnen hinaus. Mal kucken, laßt das kleine Ding in mir
drin nach draußen sehen. Und — was siehst du? Sag ich doch:
Diesselbe Scheiße.

Am PC. Sie liest vom Bildschirm, hantiert mit der Maus,
tippt ein.

You got new mail. Fein. (liest) Subject: Neues vom kleinen
Lauser. Die alte Drecksau schon wieder. Hi, du kleine heiBe
Büromaus. Ist dein Mann da? Schick ihn in die Kneipe auf ein
Bier, und dann mach das Bild auf. (klickt das Bild auf, lacht)
Mein Gott, was für ein kleines Mäuseschwänzchen. (liest) Hast
du auch so viel an, wie ich jetzt anhabe? Siehst du meine

10.

lich ein Bild von dir. Die alte Sau. Gut. New Message. (tippt)
Hallo, kleiner Lauser. Mein Mann ist auf Geschäftsreise, Hab
keine Webcam, kann dir kein Bild mailen. Aber stell dir mich
vor: Ich bin groß und schlank, lange blonde Haare, großer
Busen. Möchte deine Hand zwischen meinen Beinen! Möchte
deinen Mund auf überall! Möchte deinen Schwanz - abhacken.
Nein. Clear. Muß ihm später schreiben. Löschen den ganzen
Dreck...

Pause

eben. Gestern. Vor der Ewigkeit. Hatte dieses Vieh aus Plastik
und Plüsch, das von einem lernte. Klatschte, und das Vieh wur¬
de wach, schlug die Augen auf, begann zu plappern. Redete
mit ihm, und das Vieh merkte sich meine Wörter und benutz¬
te sie beim nächsten Mal. Hat nicht eigentlich geantwortet,
aber hat mir zugehört, hat das aufgenommen, was ich sagte,
war ihm wichtig, hat sich’s gemerkt. Die Elke von Stiege vier
hatte auch so ein Vieh. Manchmal stellten wir sie einander ge¬
genüber, ich oder Elke klatschten in die Hände, die Vieher wur¬
den wach, ich oder die Elke sagten ein Wort, die Vieher
begannen zu plappern, wenn der eine was sagte, antwortete der
andere und merkte sich das vom anderen, und dann der ande¬
re das gleiche, so ging es hin und her. Wenn wir sie nicht stopp¬
ten, plapperten sie, bis die Batterien alle waren, immer
schneller und hektischer, Elkes Vieh wollte meins überbrüllen
und meins das Elkes. Wir saßen da und brauchten nichts zu sa¬
gen, redeten ja die Vieher miteinander ...

Pause.

Italien, ja. War so schrecklich kalt. Im Oktober wird.es nachts
ungeheuer kalt, auch an der Adria. Die Lichter von der
Autostrada, müssen noch tiefer rein in die Büsche, sagte Michi,
als die Lastwagen in den Rastplatz reinkamen. Hatte plötzlich
diese Angst vor Schlangen wieder. Wach auf Michi, da bewegt

Scheißwinter kann uns vergessen. Wollten ja eigentlich nach
Griechenland, aber die 3.000 aus dem Nachtkasten meiner

unbedingt Pillen kaufen in der Stadt, der Michi, und Schnaps,
und was zu rauchen, und dann hatte er Angst, das über die
Grenze zu schaffen. Ist doch EU, sagte ich, halfnichts. Blieben
erst mal ein paar Tage in der Stadt und brauchten die Pillen auf
und das Gras. Michi stand dann auf und trat alles nieder, wo ich
dachte, daß eine Schlange. Waren nur dürre Äste am Boden.
Dann nahm er mich in den Arm und legte die Decke um uns
beide und so hockten wir und warteten auf die Sonne. War ja
gleich wärmer dann. Wir bleiben beisammen, ja? Ja. Im
Morgenlicht holte ich das Stanley raus und gab es Michi. Wenn
du mich liebst, dann machst du es. Er griff es sich und mach¬
te es. Ein großes F in den Unterarm, außen, damit es jeder se¬
hen kann. F für Fritzi. Dann nahm ich das Stanley und machte
es. M für Michi. In meine Haut. Jetzt ist es fast verschwunden.
Siehst du nur noch, wenn du es weißt.

Beitrag Walter Kohls bei der Lesung am 12. Oktober 2000 aus
Anlaß des F ranz Kain Kollogiums in Linz. Das Stück „ritzen“
ist verlegt beim „Verlag für Kindertheater“, Hamburg.