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Aber was besagt das eine, was besagt das andere? Den Woyzeck halte ich ganz gewiß für ein Stück Literatur, darin Mitleid gegenwärtig ist. Hat es mich da überhaupt zu interessieren, ob Georg Büchner den leibhaftigen Woyzecks seiner Zeit gegenüber Mitleid empfand oder nicht — oder ob er, falls ja, gar zu ihren Gunsten karitativ oder sonst mildtätig handelte? Gerechte Empörung, nennen wir es einmal so, war mit Woyzeck zu schreiben. Genügt das nicht? Unser Engagement für die Mühseligen und Beladenen: Resultiert es aus Mitleid oder — bei den meisten, vermute ich — nicht eher aus der Erkenntnis „Hier geschieht Unrecht, und dagegen muß man etwas tun“. Adolf Holl schreibt im erwähnten Buch: „Ich identifiziere mich mit den Unterprivilegierten, wenn sie mir nicht zu nahe kommen.“ So rigoros würde ich es für mich nicht formulieren, aber weit davon entfernt bin ich nicht. Wo ist die Grenze zwischen Mitgefühl und Mitleid? Da private Definitionen den Diskurs nur verwirren, suche ich nach einer allgemein akzeptierten Definition. In der Brockhaus-Enzyklopädie liest man dazu: „Das Erleben von Leid, Schmerz und Not anderer wie eigenes Erleben, das sich in tätiger Hilfe, Nachsicht und Rücksichtnahme gegenüber dem Leidtragenden äußert.“ Das heißt: Mitleid hat zu tun mit dem Bewußtsein der eigenen Verletzbarkeit, in der Bezogenheit auf andere sieht es dann aber gerade von der eigenen Person ab. Das wirft im Zusammenhang mit unserem Thema allerhand Fragen auf: Kann, wer wirklich Mitleid empfindet, sich damit zufrieden geben, daß „bloß“ Literatur daraus entsteht? Was hat der, dem mein Mitleid gilt, denn davon, daß ich ihn und sein Elend zum literarischen Thema mache — anstatt ihm, wenn ich kann, tätig zu helfen? Wie ist das bei jemandem, der solche Literatur schreibt, mit dem Absehen von der eigenen Person? Stellt er sich nicht gerade im Gegenteil allzusehr in den Vordergrund, wirft er sich nicht geradezu in Pose? Immerhin tut er etwas für die — bleiben wir dabei: — Mühseligen und Beladenen. Was genau tut er? Er zeigt auf. Er erinnert. Vielleicht klagt er an. Vielleicht erreicht er, indem er all das tut, jene kathartische Wirkung, die aus der Erregung des Mitleids im Leser entsteht. Und was tun die Leser dann? Und was ist, wenn wir in ihnen nicht Mitleid, sondern nur Mitgefühl erregt haben, das folgenlos bleibt? Ich breche hier ab und sehe - alles in allem — mehr Zweifel als Gewißheiten, mehr Fragen als Antworten. Über „Gegenwart und Abwesenheit der Moral in der Literatur“ könnte ich lange reden. Das Wort Mitleid aber bleibt für mich - vorläufig wenigstens — ein bißchen zu groß, ein bißchen zu pathetisch. Walter Wippersberg, geboren 1945 in Steyr (Oberösterreich). Lebt als Schriftsteller, Regisseur und Filmemacher (‚Das Fest des Huhnes“) in Losenstein und — da er seit 1990 an der Filmhochschule unterrichtet — auch in Wien. Er hat zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Romane verfaßt, auch Kinderbücher (‚Kater Konstantin“). Erhielt den Österreichischen Staatspreis für Kinderliteratur, den Kulturpreis des Landes Oberösterreich, den Fernsehpreis der Österreichischen Volksbildung. Zuletzt hat er sich in mehreren Romanen mit Tendenzen der Gegenwart auseinandergesetzt, u.a.: Die Irren und die Mörder (1998): Ein nützlicher Idiot (1999). Ich hatte nicht viel Gelegenheit, auszustudieren, was die Literaturwissenschaft mit dem Mitleid anfangen kann; zu ihren großen Faszinationen scheint es nicht zu gehören, die meisten Germanisten werden das Mitleid wohl für etwas Außerliterarisches halten, das nur einmal, am Rande des Naturalismus, als Mitleidsliteratur Literaturgeschichte schrieb, etwa in den Werken der Marie von Ebner-Eschenbach, Die Spitzin, diese traurige Hundegeschichte aus den späten 1870er Jahren, die von selbstlosem Zutrauen eines Tieres handelt, bis vielleicht hin zu Alma Johanna Koenigs Schibes (1920), auch eine Hundegeschichte, auch eine Geschichte von selbstloser Liebe. Mitleid und Mitleiden mit aller Kreatur, die ja, gleich dir und mir, das Wort sagt es, der gleichen Schöpfung angehört, dieses in den Kosmos sich dehnende und zugleich in seiner Konkretheit sich mehr und mehr ausdünnende Mitleid, doppelt abstrakt in seiner Allgemeinheit und in seiner Abgehobenheit vom eigenen Selbst, dieses Mitleid mit der Kreatur ließ man wohl bestehen, ein Mitleid ohne innere Bewegung, ohne Dialektik, immer nur zurückebbend vor demselben Paradoxon, all das Leid nicht mitertragen zu können, und wieder aufflu14 tend durch den gegebenen Anlaß, um von diesem aus neuerlich seine Reise um eine ganze Welt des Leidens anzutreten und darin wieder zu versiegen. 1955 erschien in Wien mit Dein Herz ist deine Heimat die bis heute einzige Anthologie der Gedichte der aus Österreich 1934 — 1945 Vertriebenen, Verfolgten, in Konzentrationslagern Ermordeten, und in ihr waren die Gedichte, die vom Leiden der Tiere handelten, in einem Kapitel zusammengestellt mit den Gedichten über die Konzentrationslager, als wollte man damit sagen: Wir sind zwar Juden, Zigeuner, Politische (mit dem roten Dreieck) — aber sind doch auch Kreatur, der Schöpfung angehörig, Eures Mitleids würdig! Bei diesem Zustande des Mitleids, in dem das Kreatürliche. und das Menschliche ungeschieden bleiben, scheinen beide Redensarten, die herabsetzende, mit der man jemandem, den man nicht mag, nachsagt, man könne mit ihm nur Mitleid haben, und die entgegengesetzte, daß man jemanden nicht durch unangebrachtes Mitleid herabsetzen wolle, scheinen also beide diese unschönen Redensarten gleichermaßen berechtigt. Was herrscht, ist bekennende Mitleidlosigkeit, garniert mit je