ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
enlagers Auschwitz. „Daß ich Jude bin, ist eigentlich ein ...
Produkt des Antisemitismus“, äußerte Ligeti 1990”. Er be¬
kennt, daß er noch heute Haß empfindet — „ein freischweben¬
der Haß, daß das möglich war‘“°. Eine religiöse Bindung an das
Judentum verneint Ligeti und seine Beschneidung als Kind sei
nur „pro forma“ gewesen. Mit voller Klarheit weiß er indessen,
daß er jenseits aller religiösen Zusammenhänge Jude ist. Nach
seiner Auffassung wurden die Juden im Laufe der Jahrhunderte
aus einer religiösen Gemeinschaft zu einer gesellschaftlichen
Gruppe, und zwar durch Absonderung und Verfolgung:
Ich weiß nicht, ob heute, in der heutigen Situation zum
Judentum zu gehören gleich ist mit zu einer Religion zu gehö¬
ren. Bestimmt war es eine Religion, wurde aber dann durch die
Absonderung zu einer Gruppe, einer aufgezwungenen
Absonderung schon seit dem Mittelalter, wurde zu einer Art
von Verteidigungsgemeinschaft.*'
Befragt danach, ob sein Jude-Sein und insbesondere die
Verfolgung durch die Nazis Spuren in seiner Musik hinterlas¬
sen habe, antwortet Ligeti: „Das kann ich verbal, mit Wörtern
nicht beantworten, ich kann es beantworten in der Musik. Du
findest in der Musik etwas. Ich kann darüber nicht sprechen
...“” Dieses „Etwas“, das sich als nicht benennbarer Inhalt in
der Musik Ligetis niedergeschlagen hat, gehört zu jenen psy¬
chischen Tatsachen, die am Schluß des Ligeti-Textes über sein
Judentum angesprochen werden und die unser aller Existenz
für immer bedingen werden:
Das „Bewußtsein, daß die Verkrampfung und die Ressenti¬
ments, die wir alle, Juden und Nichtjuden, seit der Hitler-Zeit
mit uns schleppen, unheilbar sind — sie sind psychische Fakten,
mit denen wir leben müssen“.” Aus dieser Perspektive muß
auch das Judentum von Dessau und Eisler bedacht werden.
Allerdings gibt es von ihnen nicht so klare Äußerungen zum
Thema wie von anderen. Dabei haben auch sie „nur zufällig“
überlebt. (Paul Dessaus Mutter starb am 8. September 1942 im
KZ Theresienstadt im Alter von 79 Jahren.) Auch jenseits jeg¬
licher religiöser Komponenten besaßen sie eine ihnen aufge¬
zwungene Identität als Juden, die sie für die Vernichtung
bestimmte. Daß das Thema Shoah weder im Werk von Eisler
noch in dem von Dessau eine Rolle spielt, ist doch sehr auf¬
fällig. In Dessaus zweitem großen Oratorium, dem Deutschen
Miserere, wird zwar der Faschismus, der Krieg und die Vision
eines künftigen sozialistischen Deutschland dargelegt, nicht
aber das Schicksal der europäischen Juden (und auch nicht an¬
derer Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle,
Behinderte usw.). Das Werk entstand zwischen 1943 und 1947
in den USA, wurde also im vollen Wissen über die fabrikmäßig
betriebene Tötung unschuldiger Menschen in Auschwitz¬
Birkenau, Majdanek, Chelmno, Treblinka, Sobibor und Belzec
fertiggestellt. Zwar beruht das Libretto des Deutschen Miserere
fast ausschließlich auf Gedichten, die Brecht schon während
der Nazi- und Kriegszeit geschrieben hat. Aber das hätte ja
nicht so sein müssen. Auch die einzige extra für das Oratorium
gedichtete Strophe mit dem Titel „Beschämung“ beharrt auf
dem einmal gestellten Thema des faschistischen Krieges unter
Aussparung des nazistischen Massenmordes:
In Beschämung
Sieben Jahre aßen wir das Brot des Schlächters.
Sieben Jahre schmiedeten wir ihm die Kriegskärren.
Ein besiegtes Volk fuhren wir
zu besiegen andere Völker.”
TRUST
Man sollte sich hüten, das Umgehen des Themas „Shoah“ in
Werk und Biographie von Dessau und Eisler vorschnell er¬
klären oder gar beurteilen zu wollen. Die Shoah war eine so
überdimensionale humane Katastrophe, daß sie noch heute un¬
sere Vorstellungskraft bei weitem überfordert. (An diesem
Punkt, daß der Mensch das, was er herstellen kann, sich in sei¬
nen Folgen nicht mehr vorstellen kann, setzte der Philosoph
Günter Anders an, um den Gedanken einer allgemeinen
„Antiquiertheit des Menschen“ zu entfalten.”) Kaum ein
Künstler hat es gewagt, sich dem Thema ,,Shoah“ gestalterisch
zu nähern — vielleicht aus Angst, es zu verfehlen und damit zu
banalisieren, vielleicht auch aus Angst vor den Erlebnissen, die
während der künstlerischen Arbeit durchzustehen wären und
die den Menschen, für die es gemacht sein sollte (darunter die
Überlebenden), zugemutet werden müßten. Schönbergs A
Survivor from Warsaw ist eine der wenigen Ausnahmen.
Es dürften aber auch noch andere Gründe für die Umgehung
der Themen Judentum und Shoah beim späteren Dessau und
bei Eisler insgesamt eine Rolle gespielt haben. Der neu gebil¬
dete Staat DDR hatte sich bekanntlich als „antifaschistischer“
Staat definiert. Dabei wurde der Faschismus ausschließlich aus
der Perspektive der Kapitalismuskritik definiert. Faschismus ist
der auf die Spitze getriebene Kapitalismus. Die im Nazismus
so dominante Komponente des Rassismus fiel dabei unter den
Tisch — mit enormen Folgen für die an sich ehrenwerte
Exilforschung in der DDR. In diesem Zusammenhang ist aber
auch an den Antisemitismus in der Sowjetunion zu denken, der
besonders unter dem späten Stalin schlimme Auswüchse zeig¬
te. Während die Sowjetunion die befreundete Schutz- und
Brudermacht war, galt der 1948 gegründete Judenstaat Israel
als Kind der kapitalistisch-imperialistischen USA. Zu alledem
kommt noch die generelle Religionsfeindschaft der Marxisten¬
Leninisten hinzu, die — anders als in Italien, Frankreich oder
Lateinamerika — im preußisch-protestantisch formierten Nor¬
den mit besonderer Konsequenz gepflegt wurde.
Daß unter diesen Umständen 1962 die Uraufführung der
Hagadah in Jerusalem stattfinden konnte (wenngleich in
Abwesenheit Dessaus), erscheint wie ein kleines Wunder.*
Bezeichnend ist, daß Dessau im Programmheft dieser Auf¬
führung Details über sein religiöses Leben in der Kindheit mit¬
teilte, die er in der DDR verschwieg. Dessau hatte Freunde in
Israel und hatte schon zu Zeiten Palästinas Musik zu Filmen
geschrieben, die das Leben im Kibbuz, die Fruchtbarmachung
des Landes und überhaupt den Aufbau des neuen Gemein¬
wesens begleiten sollten.”
Sehr empfindlich reagierte Dessau, als Ende der 50er Jahre
in Westdeutschland Neonazis auf den Plan traten und jüdische
Friedhöfe und Synagogen schändeten. Zusammen mit dem
Textdichter Jens Gerlach und den Komponisten Wagner¬
Regeny, Blacher, Hartmann und Henze initiierte und schrieb
Dessau die Kollektivkomposition Jüdische Chronik (1960)*.
Das etwa zwanzig Minuten dauernde Werk für Alt- und
Baritonsolo, Kammerchor, zwei Sprecher und kleines Orche¬
ster geht von den Meldungen des Tages aus — den antisemiti¬
schen Ausschreitungen von 1959. Dann wendet sich die
Kantate riickblickend dem Elend im Warschauer Getto und
dem verzweifelten Kampf der Aufständischen zu.
Die Nähe des Sujets zu Schönbergs Chorwerk A Survivor
from Warsaw wird keinem der Autoren entgangen sein. (Wenn
nicht alles täuscht, ist im Epilog, den Dessau vertont hat, eine
kleine Hommage an Schönbergs einzigartige Komposition ent¬