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Granach, Friedrich Wolf, Siegfried Kracauer, Johannes R. Becher, Hans Sahl, Elisabeth Bergner oder Oskar Maria Graf, fast alle aus Archiven der Berliner Akademie der Künste. Sie geben preis, was der existentielle Bruch des Exils für die Vertriebenen bedeutete: berufliche und gesellschaftliche Ausgrenzung, materielle Sorgen und Lebensangst, Kampf um die Rettung der eigenen Produktivität, Suche nach Strategien des politischen Widerstands oder auch: Abschied vom Leben. Es ist dem Herausgeber gelungen, aus längeren Briefwechseln Beispiele auszuwählen, die nicht ausführlicher Kontextualisierung bedürfen und nicht banal oder nur privat erscheinen. Solitäre sind jedenfalls Alfred Kerrs Bittbrief aus dem Schweizer Exil an den Verleger des „Berliner Tageblattes“ (25. März 1933), Arnold Zweigs Brief an „Vater“ Sigmund Freud (21. April 1934) über seine ersten Eindrücke von Palästina, Fritz Kortners Brief an seine Frau Johanna (13. Dezember 1937) und die tragisch-lakonische Postkarte des Berliner Musikwissenschaftlers Kurt Singer aus Theresienstadt (7. Mai 1943) an Fritz Silten. Diese Anthologie ist mehr als eine Quellensammlung für ein Fachpublikum, sie könnte sich auch als Materialienband für den Unterricht, für Lesungen und Veranstaltungen bewähren. Die ersten drei — buchgrafisch ansprechenden — Bände der Reihe erhielten im Herbst Verstärkung durch eine Neuausgabe von Hans Sahls 1938 erstmals publiziertem Oratorium „Jemand“. Man darf auf weitere Fundstücke gespannt sein. Susanne Alge „Hier brauchen sie uns nicht.“ Maxim Vallentin und das deutschsprachige Exiltheater in der Sowjetunion 1935-1937. Briefe und Dokumente. Hg. von Peter Dietzel. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000. 320 S. mit Abb. (akte exil. 1). ÖS 350,„Was noch begraben lag.“ Zu Walter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente. Hg. von Geret Luhr. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000. 290 S. (akte exil. 2). OS 350,— Abschied und Willkommen. Briefe aus dem Exil (1933-1945). Hg. von Hermann Haarmann unter Mitarbeit von Toralf Teuber. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000. 311 S. (akte exil. 3). ÖS 350,Identität und Identifizierung. Leon Guz’ „Tagebuch aus dem Versteck 1943-44“ In dem Buch ist ein Arbeitsausweis der Rudzki-Fabrik in Minsk Mazowiecki (bei Warschau) abgebildet, der für seinen Inhaber, den aus Warschau gekommenen Juden Leon Guz im Jahre 1942 überlebenswichtig war. Denn wer sich nicht als Beschäftigter aus weisen konnte, wur- |” de entweder an Ort } und Stelle von den ; | Deutschen liquidiert | oder in ein Vernichtungslager deportiert. Auf dem am 1. Dezember 1942 ausgestellten Ausweis findet sich anstelle eines Fotos ein Fingerabdruck. Der Inhaber des Ausweises | ist durch diesen Fingerabdruck zwar nicht wiederzuerkennen, wohl aber identifizierbar. Das fiihrt zwanglos zu dem Unterschied zwischen dem Nachweis einer Identität und der Identifizierung einer Person. Wer seine Identität nachweisen muß, tut dies mit einem Lichtbild, mit Zeugen, mit Dokumenten, seiner Unterschrift — also mit seinem Abbild, mit der Hilfe anderer, die ihn ihrerseits vor sich sehen, mit Unterlagen, in denen sich behördliche Kenntnisnahme seiner Existenz verbürgt. Wer seine Identität nachweist, erklärt sich für seine Handlungen verantwortlich, sie sind ihm nun zurechenbar, er haftet für sein Tun, garantiert mit seiner Persönlichkeit. Manche Menschen treiben diese Garantie so weit, daß sie ihre Unbescholtenheit beteuern, sobald man sie nach ihrem Namen fragt. Jeder Polizist weiß ein Lied davon zu singen. Wer aber identifiziert wird, hat darum keine Identität. Sie oder er wird als das identifiziert, was sich in einer Liste, einer Datenbank, im anonymen Kollektiv eines rassistischen Vorurteils bereits vorgemerkt findet. Der Nachweis der Identität steht durchaus im Einklang mit der Ausübung bürgerlicher Rechte, entspricht dem Interesse des Individuums am prekären Genusse seiner eingeschränkten Freiheiten. Die nachgewiesene Identität ist eine wie immer verzerrte Spiegelung der eigenen Persönlichkeit. Die Identifikation einer Person hingegen dient den Bedürfnissen eines Systems, der Verwaltung von Menschen. Für die Identifikation zählt ein Merkmal: die Hautfarbe, die Religionszugehörigkeit, der Fingerabdruck. Das Bild, das die Papillarlinien des linken Zeigefingers zeichnen, haben noch nicht einmal Chiromanten als Ausdruck der Persönlichkeit gedeutet. In Leon Guz’ Erinnerungen eines Überlebenden von Warschau geht es um den Kampf zwischen Identität und Identifizierung. Seine Identifizierung als Jude führt schrittweise zur Auslöschung seiner Identität. Er verliert seine Arbeit, sein kleines Vermögen, seine Wohnung; dann seinen Bruder, seine Eltern, seine Schwester. Zum Glück sieht seine junge Frau nicht wie eine Jüdin aus und kann sich daher mit der Geburtsurkunde einer ums Leben gekommenen Polin legalisieren. Sie, „Fräulein mn _ Tanaadaajiny te Jw M Foto: Mandelbaum Verlag Jozefa“ alias Alicja, kann ihren Mann und ei nige Leidensgenossen in einer von ihr ganz legal gemieteten Mansardenwohnung im Warschauer Stadtteil Praga verbergen und versorgen, alles unter entsetzlichen Gefahren und unendlichen Mühen. Leon Guz hat in seinen Tagebüchern den Kampf gegen die Auslöschung seiner Identität aufgenommen. Von Anfang 1943 bis September 1944 lebte er im Versteck; die Welt wurde hier immer enger und die Realität immer bedrängender. Die Sprache seiner Tagebuchaufzeichnungen ist knapp, unprätentiös, genau in der Beschreibung von Tatsachen und Menschen. Gleich am Anfang zitiert er das chinesische Sprichwort: „Gott behüte uns vor dem, woran sich der Mensch gewöhnen kann.“ Auch darum schreibt er über das, was ihm widerfährt. Das Buch gibt Einblick ins Leben im „Generalgouvernement“ außerhalb der Konzentrationsund Vernichtungslager. „Die Mehrheit des polnischen Volkes“, sagt Guz, „begegnete dem Massenmord gleichgültig, manchmal sogar mit Zustimmung.“ Das ist die eine Seite. Andererseits hätten Guz und seine Frau ohne die Hilfe nichtjüdischer Landsleute kaum überlebt. Im Untergrund arbeiteten verschiedene Hilfsorganisationen und rivalisierende Widerstandsgruppen (mit landesweiten Verbindungsnetzen). Und manchmal fanden sich Mutige, Polen und sogar Deutsche, die sich menschlich zeigten. Guz verzeichnet alle Hilfeleistungen nichtjüdischer Personen akribisch. Aufgrund seiner Berichte werden Apolonia Przybojewska und Janina Kucinska in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem heute als „Gerechte“ geehrt. Konstantin Kaiser Leon Guz: Also wir leben noch. Tagebuch aus dem Versteck 1943-44. Hg. und bearbeitet von Christian Schüller und Gisela Ratherrt. Aus dem Polnischen von der Arbeitsgemeinschaft Literarisches Übersetzen an der Universität Wien. Wien: Mandelbaum Verlag 2001. 165 S. OS 218,— 65