Über die neuesten, höchst
merkwürdigen Befunde eines
nichtschifahrenden Tirolers
Die Steiermark hat den Wolfi Bauer, Tirol den
Helmuth Schönauer (= HeSchö). Letzterer
hat binnen 13 Monaten drei Romane in drei
verschiedenen Verlagen vorgelegt, alle lustig
und ernst zugleich, wie eine Klettertour in der
Fleischbank Ostwand im Wilden Kaiser mit
einer Flasche Chianti im Rucksack. Denn
„nichts ist auf Anhieb so schwer zu deuten
wie das Chaos“, heißt es in „Speckbachers
Nachlassen“.
Exemplarisch hervorzuheben möchte ich den
Roman „Der Notstand des Generals Eyer“,
der (wie alle Romane Heschös) den Lebens¬
raum seines Autors nicht verleugnet. Er ist
formal wie eine Generalstabskarte der Ge¬
birgsjäger angelegt. Die gebirgsbedingten
engen Aufmarschplätze für all die tapferen
Notverordnungsfiguren sind in 5 „Erzählsek¬
toren“ gegliedert. Jeder Erzählsektor läßt den
Leser eintauchen in einen alle Bereiche der
sprachlichen und gegenständlichen Wirklich¬
keit abdeckenden Paragraphenkatalog aus ge¬
planten Notverordnungen zur Rettung des
Abendlandes (= Tirol).
Die einzelnen Textsequenzen innerhalb dieser
„Sektoren“, im scharfen Schnitt aneinander¬
gereiht, bestehen aus exakten Einstellungen
von 34-38 Zeilen. Fast auf jeder Seite wech¬
seln die Schauplätze, Figuren und damit auch
die Bewußtseinsebenen wechseln.
Der Leser wird süchtig auf die in regelmäßi¬
ger Schnittfolge vorgeführten „Fiktions¬
Fusionen“. Diese „Fusionen“ entpuppen sich
aber, bei Lichte besehen, als gar nicht so fik¬
tional, sondern bilden das Gegeneinander¬
leben der heillos überforderten und moralisch
korrumpierten Spezies Homo sapiens aufs
Treffendste ab (der Ausdruck dürfte einem
General nicht ganz fremd sein). Ein Gegen¬
einanderleben, das nur noch mittels Notver¬
ordnungen (Gesetze, Verträge, Weisungen
etc.) aufrechterhalten wird.
Keine Legislative ohne Exekutive: Beamte
also. „Wer Beamte sät, wird Wahnsinn ern¬
ten“. Aber auf die Militér- oder Polizeibeam¬
ten ist Verlaß — auch wenn der eine oder
andere hin und wieder wie eine „aufgebrach¬
te Tiroler Fettleber mit Orden“ daherkommt.
Viel radikaler jedoch agiert die von allen so¬
zialistischen Hintertreibungen befreite Wirt¬
schaft in Gestalt einiger Firmen, welche die
Weltherrschaft antreten respektive angetreten
haben. Denn „es gibt nichts Schlimmeres, als
wenn jemand nicht weiß: Bin ich schon er¬
obert oder nicht.“
Das Jenseits entfallt und von der Kultur tiber¬
lebt nur noch die Gaudi. Texas ist Tirol und
umgekehrt. Ein Diavortrag (,„Bummsti!“)
über ein Manöver muß wiederholt werden, da
vom General Eyer abwärts alle so betrunken
sind, daß sie sich am nächsten Tag an keine
Bilder mehr erinnern können, obwohl diese
„so groß wie eine Wand waren“.
HeSchö schreibt „Romane“, die in Form und
Inhalt das Gegenteil jener literarischen Not¬
verordnung verkörpern, die aus den Haupt¬
quartieren und Gefechtsständen der großen
deutschen Verlage auf den Markt geschleu¬
dert werden. Sie sind wahnwitzig, absurd,
skurril und lenken des Lesers Interesse auf all
die winzigen Kuriositäten und Abgefeimt¬
heiten unserer großartigen Zivilisation.
Heschös Texte sind aber nicht absurder, skur¬
riler, anstößiger oder wahnwitziger als jene
Gesellschaft und jene Geographie in der sie
entstehen.
Die Aufzeichnungen und Reflexionen Bron¬
skys, des überwachten Schriftstellers im
Roman „Der Notstand des Generals Eyer“,
liefern eine „Programmatik“, die auch für die
Romane HeSchös zutreffen: „Der ideale
Roman hat kaum mehr Figuren, die Identi¬
fikation entsteht durch Konstellation von
Bewußtseinslagen. (...) Ich verstehe nicht,
warum man immer von der Fiktion der
Geschichte durch Fiktiönchen ablenkt, der
wahre Wahnsinn wird ja auch immer dort er¬
kennbar, wo jemand über die Wirklichkeit
schreibt und nicht, wenn er irgendetwas im
Unterbewußten erfindet.“
Es wird nichts nützen, längerfristig: Auch
wenn konkurrierende, mehr oder weniger
korrumpierte Literatur- bzw. Kunstbetriebs¬
systeme „Schönauers Neue Heimatliteratur“
(SNHL) noch so vehement ausgrenzen, sie
hat längst ihr Myzel entwickelt und bringt
Leser zwischen Ohio und Nischnij Nowgorod
zum Denken, Schwitzen und Lachen.
HeSchös Literatur basiert auf einer raffinier¬
ten Dialektik zwischen den Handlungen einer
verrückt gewordenen Menschheit und den da¬
bei entstehenden Tatsachen als Rohstoff auf
der einen und seinem Denken als Ausdruck
und Zusammenfassung einer ganzheitlichen
Wahrnehmung auf der anderen Seite. Dieser
Prozeß mündet in die Präzision seiner unver¬
wechselbaren Sprachkunst.
„Durch die Notverordnung“ (die der General
Eyer dauernd herbeiredet und ankündigt, ob¬
wohl längst Dinge geschehen, die im Sinne
der Notverordnung „gelöst“ werden) „wird
die Natur zur Technik und die Technik zur
Natur“, heißt es an einer Stelle im nämlichen
Roman (S. 229). Da mittlerweile auch ein
Eskimo Blechdosen mit der Hebelwirkung ei¬
nes Dosenöffners aus dem kolonialisierenden
Mutterland Dänemark zu Leibe rücken muß,
um zu seiner Ration dioxinverseuchter Fische
zu kommen, weiß dieser, daß die Notver¬
ordnung, die von den Zentren der Macht aus¬
geht, auch ihn erreicht hat. Inzwischen sind
auch die Wale gestrandet (S. 226); aber nicht
nur sie haben die Orientierung verloren. Die
Notverordnung ist eine in Paragraphen gegos¬
sene Form des Scheiterns, Strandens, kurzum,
der globalen Orientierungslosigkeit.
Kein Wunder, denn: Umso höher die Befehls¬
haber in der Hierarchie stehen, desto sinnlo¬
ser die Befehle und desto heftiger der
Applaus, vor allem von ganz unten.
Richard Wall
Helmuth Schönauer: Der Notstand des
Generals Eyer. Roman. Klagenfurt: Sisyphus
1999. 254 S.
Speckbachers Nachlassen. Roman. Inns¬
bruck: Tiroler Autorinnen und Autoren
Kooperative 2000. 180 S.
„das tiroler heimatbuch“. aufschnitt/roman.
Wien: edition selene 2000. 240 S. ÖS 285,¬
Ein Briefwechsel zwischen Fritz
Lang und Berthold Viertel
Von März bis Mai dieses Jahres konnte man
im Imperial Kino in Wien die große Fritz
Lang-Retrospektive sehen. Veranstaltet wurde
sie vom Film Archiv Austria in Kooperation
mit dem Filmmuseum Berlin. Die Retro¬
spektive war umfassend konzipiert, sie reich¬
te von 1917 bis in die 1960er Jahre und ließ
die Klüfte zwischen den einzelnen Filmen
Fritz Langs oder dem, was man vielleicht sei¬
ne Phasen nennen kann, verblüffend kenntlich
werden. Und wohl auch manche Abgründe.
„Von der Dämonen- und Geisterwelt deut¬
scher Filmerfindung“ hatte Berthold Viertel
1947 anlässlich seiner Besprechung des von
ihm geschätzten Kino-Buches von Siegfried
Kracauer („From Caligari to Hitler. A
Psychological History of the German Film“,
Princeton 1947) geschrieben. Die Schau zeig¬
te auch die antifaschistischen Filme Fritz
Langs wie Man Hunt (1941), Hangman Also
Die (1942), Ministry of Fear (1944).
Bei der Renovierung des ehemaligen Hauses
von Fritz Lang wurden fiinf Kartons mit
Briefen und Manuskripten gefunden. Sie
sind in der Sammlung der Louis B. Mayer
Library des American Film Institute (AFI),
Los Angeles, aufbewahrt. Helmut G. Asper
hat einen darin enthaltenen Briefwechsel zwi¬
schen Fritz Lang und Berthold Viertel aus den
Jahren 1940-1941 anlässlich der Fritz-Lang¬
Retrospektive in Berlin in der Zeitschrift
Filmblatt veröffentlicht und kommentiert. Es
sind im Ganzen sieben Briefe, die hier abge¬
druckt sind, vier von Berthold Viertel, zwei
von Fritz Lang und einer von Lily Latte, der
Lebensgefährtin von Lang. Zwischen der
Korrespondenz lag noch eine maschinschrift¬
liche Abschrift von Viertels Gedicht „Lebens¬
müdigkeit“, das ebenfalls abgedruckt ist.
Aus dem Briefwechsel sowie aus Aspers ge¬
nauem Kommentar, der jede Anspielung, jede
Namensnennung aufschlüsselt, kann man ei¬
nige Kenntnis über die Situation von Viertel
und Lang im amerikanischen Exil erhalten.
Es ist ein Briefwechsel zwischen Kalifornien
und New York, er hebt an, als Fritz Lang nach
zweijähriger Pause seinen ersten Western zu
drehen beginnt und Viertel gerade am
Hudson-Theatre in New York The Grey Farm
von Hector Balitho und Terence Rattigan mit
Oscar Homolka in der Hauptrolle inszeniert.
1937 hatte Berthold Viertel ja in der Exil¬
zeitschrift Neues Tagebuch, anlässlich seines
Artikels gegen den NS-Film Der Herrscher