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Oder, der kurze Freitag. Der Trompetenton, der den Schabbat ankündigte, erschreckte mich. Es verging einige Zeit, bis ich mich an das neue Zeitsystem gewöhnte. Ich wußte nicht, daß die Geschäfte von Freitag Mittag bis Sonntag Früh geschlossen blieben. Eines Tages im August gingen wir durch eine Straße und von allen Seiten hörten wir herzzerreißende Klagen einer männlichen Stimme. Zuerst dachten wir, daß wieder ein Opfer des Terrors beklagt wurde, aber wir merkten, daß die Stimme aus dem Radio kam. Nur unsere Unwissenheit verhinderte, gleich zu verstehen, daß dies die Klage des Oberrabbiners über die Zerstörung des Tempels vor 2000 Jahren war. Es war der 9. Aw, ein Fast- und Trauertag. Ich beschloß die Verbindung zum Judentum zu suchen, von dem ich so weit entfernt war, aber das ich kennen lernen und dem ich zugehörig sein wollte. Am Neujahrstag wollte ich in die Synagoge gehen. Ich war naiv, denn man mußte sich für die Feiertage einen Platz im voraus bestellen gegen Bezahlung. Natürlich fand ich mich mit anderen außerhalb der Synagoge und fühlte mich zurückgewiesen. Trotz all des Erstaunlichen fühlte ich mich nicht verloren, im Gegenteil, ich empfand mich sehr schnell zugehörig. Hier bin ich zu Hause. Bürger zweiter Klasse im Kibbuz Jagur Wir waren fünf Jeckes unter tausend Mitgliedern, die aus Osteuropa stammten. Ein weiteres Ärztepaar lebte in Jagur, er war als Arzt beschäftigt und allgemein geschätzt, seine Frau war Kinderärztin und arbeitete als zweite Krankenschwester in der Klinik. Die Verantwortliche für die Klinik war eine Krankenschwester, ein Mitglied des Kibbuz aus einer namhaften Familie. Damals entdeckte ich zum ersten Mal, daß „gute Familie“ (oder Snobismus) auch im Kibbuz existiert. Die Zahnklinik war in einer Baracke untergebracht, die ungeschützt der brennenden Sonne ausgeliefert war. In den kühlen Morgenstunden arbeitete dort die Ärztin des Kibbuz. Das Zusammentreffen mit dem Leben im Kibbuz war nicht leicht. Unsere erste Begegnung mit den Kibbuzmitgliedern war am Nachmittag. Das waren die wenigen Stunden, die die Kinder mit ihren Eltern verbrachten, denn tagsüber waren die Eltern bei der Arbeit, während die Kinder im gemeinsamen Kinderhaus schliefen und lernten. Abends, nach verhältnismäßig kurzem Zusammensein mit den Eltern, kehren die Kinder zum Schlafen in das Kinderhaus zurück. Die kostbaren Stunden mit den Eltern mußten voll ausgenutzt werden. Kinder und Eltern tollten auf den Rasenflächen des Kibbuz herum, Frauen und Männer gingen auf allen Vieren, die Kinder ritten auf ihnen. Dieses konzentrierte Herumtollen und das vollkommene Fehlen von Privatleben machte auf mich den Eindruck eines Irrenhauses. Das sollte jetzt unser Zuhause sein. In einer Holzbaracke mit vielen Zimmern bekamen auch wir eines. Zwischen uns und unseren Nachbarn war eine dünne Holzwand voller Risse und Spalten, durch die wir die Nachbarn kennenlernten. In akustischer Beziehung gab es nichts Privates. Wir konnten jedes Wort durch die dünne Wand hören. Peter verschmierte die Spalten mit Gips, doch der Sohn der Nachbarn kratzte ihn wieder heraus. Die Nächte in der Baracke waren wegen der Wanzen nicht zum Aushalten. Wie ich in Rom gelernt hatte, kriechen diese Geschöpfe an der Decke, lassen sich auf uns herunterfallen und beißen uns. Wir kämpften mit ihnen so viel es ging. Eines Nachts zählten wir die Wanzen, die wir getötet hatten: 74! Doch damit lösten wir 40 das Problem nicht. Um das Ungeziefer zu vernichten, brauchte man eine Lötlampe, um es mit seinen Eiern zu verbrennen, die es in die Ritzen der Wände und Betten gelegt hatte. Unsere Nachbarn dagegen benutzten einen Schlauch und spritzten ihr Zimmer mit Wasser ab, nachdem sie Betten und Möbel hinausgestellt hatten. Aber so konnte man nicht Herr der Wanzen werden. Außerdem lief das Wasser direkt in unser Zimmer und durchnäßte, unter anderem, auch unsere Bücher. Zudem sagten unsere Nachbarn noch, es sei kein Wunder, daß wir Wanzen hätten. Man wisse ja, daß Jeckes immer dreckig seien. Auch die sanitären Verhältnisse waren nicht die besten. Nicht weit von unserer Baracke stand ein Gebäude mit Toiletten, die einer großen Zahl der Einwohner dienen sollten. Immer stand da eine lange Reihe von Wartenden. Von unserem Zimmer aus konnten wir die Reihe sehen und uns schnell auch anstellen, wenn sie etwas kürzer wurde. Unter den wenigen Steinhäusern im Kibbuz stach das Prachtgebäude des Speisesaals hervor. Dort hatten einige hundert Leute Platz, es war der zentrale Sammelpunkt und wimmelte von Menschen. Sein Bau hatte ein Heidengeld gekostet, weswegen der Kibbuz tiefin Schulden geraten war. Mir war das Leben im Kibbuz schon sowieso schwer, doch mußte ich mich auch den Eßgewohnheiten anpassen. An den Tischen standen Bänke, jede für vier Leute. Um einen Platz zu bekommen, mußte man sich vorsichtig zwischen die schon Sitzenden drängeln und sie beim Essen stören. Zum Frühstück gab es Brot, faule Tomaten und manchmal weißen Käse und Marmelade. Die guten Tomaten wurden auf den Markt geschickt. Das Budget des Kibbuz erlaubte es nicht, Tassen zu kaufen, deshalb mußte jeder, der trinken wollte, mit Falkenaugen um sich blicken, um jemanden zu entdecken, der sein Frühstück beendet hatte und dessen Tasse man bekommen konnte. Kannen mit gesüßtem Tee standen auf dem Tisch. Wenn ich eine Tasse erspähte, mußte ich schnell von der Bank springen, die Tasse ergreifen und sie ausspülen gehen. Diese Art von Sport erlernte ich nie, und da ich ohne Getränk nicht essen konnte, fuhr ich jeden Morgen hungrig zu meiner Arbeit als Freiwillige im Krankenhaus von Haifa. Überhaupt herrschten in Jagur Eßgewohnheiten, die mir den Appetit verdarben. Auch Messer gab es nur wenige, so daß man ohne sie essen mußte. Auf jedem Tisch stand der „Kolboinik“, in dem sich die Abfälle und Essensreste ansammelten. Diese Schüssel wurde nur selten geleert. Beate wendet sich an mich: „Siehst Du den Kolboinik?“ Das macht nicht gerade Appetit. (Wir schütteln uns vor Lachen und beruhigen uns nur schwer.) Ein anderer Jecke im Kibbuz gehörte zu den Nachtwächtern. Diese bekamen um zehn Uhr nachts eine besondere Mahlzeit. Eines Tages schlug er uns vor, uns an dieser Mahlzeit zu beteiligen, was wir auch taten. Wir saßen im Speisesaal bei Brot und Kakao (Kakaowasser), von dem man so viel trinken konnte wie man wollte. Doch dann erschien die Königin der Küche, die uns mit Augen ansah, als wollte sie sagen: „Ihr seid Diebe.“ Bis heute kann ich diesen verachtungsvollen Blick nicht vergessen. Unser Freund flüsterte uns zu: „Jetzt würde ich gern schreien, daß auch ich mit der zweiten Alija gekommen bin!“ Doch er blieb still. (Die Leute der „zweiten Alija“ sind nicht die Einwanderer aus Rußland oder Polen, wie die Gründer von Jagur, sondern aus Deutschland; deswegen haßten und verachteten sie uns. Wir hörten Bemerkungen wie „Wo wart ihr, als diese ganze Gegend noch ein Sumpf war und man an Malaria, Dysenterie