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Lehramtes trennten, kehrte sie, trotz aller Hindernisse, nach
Czernowitz zurück, um ihre von der Deportation heimgekehr¬
te Mutter und Schwester noch vor ihrer Auswanderung nach
Palästina wiederzusehen.

Am 5. Mai fuhr Sella unter großen Schwierigkeiten nach
Bukarest, mit dem Vorsatz, von dort alles mögliche für ihre
Auswanderung nach Palästina zu unternehmen. Da die briti¬
sche Mandatsregierung jedoch den jüdischen Flüchlingen den
Eintritt nach Palästina, erbarmungslos versperrte, blieb ihr
nichts anderes übrig, als wieder ihre Zuflucht zum Studium zu
nehmen. Im Rektorat der Bukarester Universität konnte sie
sich jedoch nicht auf ihre sowjetischen Studienjahre berufen,
weil sie die Sowjetunion heimlich verlassen hatte.

Zu ihrer Freude traf sie die Professoren der einstigen rumö¬
nischen Czernowitzer Universität wieder, die bezeugen konn¬
ten, daß sie vor der sowjetischen Okkupation das dritte Jahr
absolviert hatte. Sie besaßen noch die Merkbücher, wo die
Noten, mit denen sie ihre Studenten klassifiziert hatten, einge¬
tragen waren. Damit war ihr die Möglichkeit gegeben, in den
Jahren 1945/46 und 1946/47 ihr Studium fortzusetzen und es
zu beenden. Nach einem zehnjährigen Studium an fünf Hoch¬
schulen und in vier verschiedenen Unterrichtssprachen hielt
sie endlich, im Sommer 1947, ein akademisches Diplom in
Händen, von dem sie jedoch aus verschiedenen Gründen, vor
allem wegen ihrer Auswanderung nach Israel, keinen Ge¬
brauch machen konnte und wollte. Diesem Wunsche stand
nunmehr nach der Gründung des Staates Israel die bereits

kommunistische rumänische Regierung, die keine Auswan¬
derung zuließ, entgegen.

Im Dezember 1948 bot sich ihr und Emil (ihrem zweiten
Mann), der im Mai 1948 sein Studium am Bukarester Poly¬
technikum absolviert hatte, eine scheinbar günstige Gelegen¬
heit, Rumänien auf dem Seeweg zu verlassen. Als sie jedoch im
Begriff waren, im Hafen von Constantza einzuschiffen (sie hat¬
ten bereits israelische Pässe in Händen), wurden sie von der
Hafenbehörde erbarmungslos nach Bukarest zurückgeschickt,
weil man draufgekommen war, daß Emil Diplomingenieur war,
was ein Grund war, ihm die Ausreise zu verwehren.

Im Laufe der folgenden sechzehn Jahre wurden ihre häufi¬
gen Ausreisegesuche von den rumänischen Behörden immer
wieder abgelehnt. (Emils Gehalt war wegen der Gesuche zur
Strafe auf die Hälfte reduziert worden.) Im April 1964 wurden
sie schließlich gegen hohes Lösegeld, das Verwandte und
Freunde für sie zusammengelegt hatten, freigekauft und konn¬
ten mit ihren beiden Söhnen (dem 1954 geborenen Gerald und
dem 1957 geborenen Edmund) nach Israel auswandern.

Den Lehrerberuf hat Sella weder in Rumänien noch in Israel aus¬
geübt. Beide Söhne sind, wie ihr Mann, als Bauingenieure tätig.

1996 veröffentlichte Sella im Jerusalemer Verlag Rubin
Mass den autobiographischen Roman „Der Ring des Prome¬
theus (Denksteine im Herzen) “. Sie ist Mitglied des Verbandes
deutschsprachiger Schriftsteller in Israel und des Lyris-Kreises
in Jerusalem. Im März 2001 wurde ihr der nach Haim und
Sara Janculovici genannte Literaturpreis verliehen. — E.A.

Die erste Geschichte, spielt sich im Februar 1962 in Bukarest ab.

Fast jeden Abend kommen Emil, die Kinder und ich vor
dem Zubettgehen aus unserem Zimmer ins Schlafzimmer von
Omama und Opapa (sie liegen bereits in ihren Betten), und die
Kinder singen die Lieder, erzählen die Märchen und
Geschichten und sagen die Gedichte auf, die sie im deutschen
Kindergarten oder, was Geri betrifft, in der deutschen Schule
lernen. (Im Schuljahr 1961/62 ist Edmund in der „kleinen
Gruppe“, Geri in der ersten Klasse.)

Seit Edmund den Kindergarten besucht, will er mir eigent¬
lich zu jeder Tageszeit und überall — auf der Straße, im Bus, im
Wartesaal des Zahnarztes und natürlich auch zu Hause - alles,
was er im Kindergarten lernt, aufsagen, vorsingen und er¬
zählen. Da er eine ganz besondere Sympathie für Ameisen hat,
sagt er mir während des Tages und am Abend auch den
Großeltern, seinem Vater und seinem Bruder mit Begeisterung
das Gedicht „Am Ameisenhaufen“ auf:

„Was ist das für ein Laufen am Ameisenhaufen!/ Das krib¬
belt und krabbelt, das zippelt und zappelt! / Die Tierlein sie
schichten, sie bauen und richten, / Sie schleppen und tragen, sie
rennen und jagen. / So geht’s immer zu, ohne Rast und ohne
Ruh, / Und eh’ man’s gedacht, ist die Arbeit gemacht!“

Edmunds aufmerksame Zuhörer sind letztens Endes un¬
weigerlich davon überzeugt, daß man durch Fleiß und kluge
Zusammenarbeit eine ganze Welt aufbauen kann! Und der
Opapa behauptet mit Nachdruck, indem er seinen Kopf vom
Kissen hochhebt und seine beiden Enkel zärtlich und zugleich
ernst anblickt, er wisse das sogar aus eigener Erfahrung.

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Die zweite Geschichte ereignet sich in Tel Aviv, im März 1966.

Geri gibt sie am 10. März 1966 in einem Aufsatz, den er als
Aufgabe für mich schreiben muß, wieder: „Mama und Aba“
(Vater in Iwrit) „sind für einen Tag nach Tel Aviv gefahren. Am
Abend waren sie wieder zu Hause, und da Edmund und ich
noch nicht schliefen, erzählten sie uns, daß sie im Garten eines
am Meer gelegenen Hotels den Kampf zwischen zwei
Ameisen beobachtet haben. Sie sahen, wie beide Ameisen mit
aller Kraft an einem einzigen Zitronenkern zogen, doch leider
in entgegengesetzte Richtungen. Von Zeit zu Zeit stellte sich
eine jede von ihnen so, als ob sie wegginge, um die andere ir¬
rezuführen, kehrte jedoch gleich zurück.

Keine wollte nachgeben, keine wollte zugunsten der ande¬
ren auf die Beute verzichten, und deshalb war ihr Kampf aus¬
sichtslos.“

Die dritte Geschichte spielt am 16. September 1966 in
Jerusalem ab.

Am Nachmittag gehen die Kinder hinaus, um auf dem noch
unbebauten Hügel in der Nähe des Hauses zu spielen. Als sie
gegen Abend zurückkommen, erzählen sie:

„Mama, wir haben sehr lange Zeit eine spannende
Ameisenschlacht beobachtet. Schrecklich viele Ameisen schlu¬
gen sich grausam um Halme und Körner. Eine schleppte mit ei¬
nem Fuß einen Halm, und mit dem andern Fuß kämpfte sie und
schlug sich hartnäckig. Wir haben fast alle in eine Dose hin¬
eingedrängt, und, stell dir vor, Mama, sie haben drinnen wei¬
ter gekämpft! Sie haben sich gegenseitig getötet, den Kopf