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andererseits gesagt „tot“ so hätte er einfach
die Hand geöffnet und den Vogel davonfliegen
lassen. In jedem Fall würde er den Lehrern
vor seinen Schülern bloßstellen. Der ent¬
schlossene Student fragte nochmals: „So sag
mir doch, ist der Vogel tot oder lebendig?“
Der Rabbi zögerte einen Moment und sagte:
„Das, mein Sohn, liegt ganz in deiner
Hand...“

Javorka Finci-Pocrnja

Sarajevoer sein — eine
Gesinnung

Am 6. April 1992, einem sonnigen Feiertag in
Sarajevo, begann die Belagerungen der Stadt,
die sich an ihrer Brutalität mit grausamsten
Kapiteln der europäischen Geschichte ver¬
gleichen lassen wird. Man weiß es: Vier Jahre
lang wird nun getötet, gedemütigt, ausgehun¬
gert. Es werden beschossen: Hungrige beim
Besorgen der dürftigen Nahrung, Durstige
beim Wasserholen, Erfrorene in ihren fen¬
sterlosen Wohnungen. Kinder im Spiel,
Kinder im Klassenzimmer, Kinder im
Elternschoß. Die Absurdität und Perversion
dieser mit nichts rechtzufertigenden „helden¬
haften Verteidigungsaktion“ der Belagerer ist
dermaßen evident, daß sich die „Fassungs¬
und Ahnungslosen“ im Land der Lieferanten
des Grauens oft fragen müssen, „wer denn da
Sarajevo beschießt“.

Doch nicht nur Sarajevoer wissen es, sondern
auch die ganze wissen-wollende Welt. Und
die Bestürzung ist groß. Denn die finsteren
Ziele der vom boshaften Psychiater Ange¬
führten, denen sich gelegentlich auch man¬
cher experimentierfreudiger Literaten-Kolle¬
ge aus dem Ausland gesellt, sind leider allzu
deutlich: es will zerstört werden. Das Leben
der Menschen und darüber hinaus das Leben
einer Idee.

Die tragische Bilanz der blutigen Zerstreuung
der Schießwütigen steht mittlerweile auch ge¬
schrieben. Es wurden an die 15.000 Sara¬
jevoer getötet, darunter Tausende von Kin¬
dern. Nach einer um Jahre verspäteten
Intervention der Außenwelt, die klarerweise
wußte, wer beim Schießen zu stoppen war,
packten die Belagerer ihre schweren Waffen
zusammen, zogen sich um und gingen ihrer
Arbeit nach. Die „sonst netten Menschen“
(um mit Günther Anders zu sprechen), viele
darunter sogar ehemalige Nachbarn, die nur
„als“ Tschetniks getötet haben oder „als“
loyale Mitläufer „den Zerstörern der Men¬
schenwürde zugejubelt“ haben. Die nur „als“
Opfer Gefallenen sind aber nun einmal „tot,
ohne jede Qualifizierung. Nicht die Qualifi¬
zierung rechnet, allein die Tat des Tötens und
die Tatsache des Totseins“. (G. Anders,
Tagebücher).

Das Sterben in Sarajevo geht derweil weiter.
„Niemand ist in dieser Stadt natürlichen
Todes gestorben“, schrieb der große bosni¬

sche Dichter Abdulah Sidran in den Kriegs¬
jahren. Unzählige bluten tatsächlich an ihrer
inneren, unüberwindbaren Verletztheit buch¬
stäblich aus, das Herz bricht vielen zusam¬
men, auch wenn sie sich außerhalb der
Belagerung befinden. Und heute noch: „Nun
sterben diejenigen, die glauben, den Krieg
überlebt zu haben.“ (Sidran). Allein im ver¬
gangenen Jahr muß sich Sarajevo von etli¬
chen seiner größten, noch in der Stadt
verbliebenen Mitbürger, ja Symbolen der
Stadt, verabschieden. Nacheinander erlö¬
schen, knapp fünfzigjährig, die zu Insti¬
tutionen gewordenen Großen: der Chroniker
des Sarajevoer-Urbanen Dario DZamonja, die
jugoslawische Pop-Legende Davorin Popo¬
vic, der Basketball-Weltstar Mirza Deliba¬
zaic... In Sarajevoer Idiomsprache gesagt: Der
Schriftsteller, Der Sanger, Der Prinz...
Nebeneinander zu Grabe getragen.

Es ist keine Frage: der Zerstörungswille galt
nicht nur den verhaßten, „feindlichen“
Volksgruppen (Moslems vor allem: „Laßt die
'Türken' nicht schlafen“ hieß das nächtliche
Schießkommando des sich immer noch auf
'Lorbeeren' ausruhenden Kriegsverbrechers).
Zerstört werden sollte eine Idee, ein gelebter
Mythos — Mythos des Zusammenlebens. Für
Sarajevoer eine Selbstverständlichkeit, mit
der man nicht nur geboren wurde — mit der
man sich auch leicht infizieren ließ, wenn
man aus anderen fremden Welten kam, oder
die man mit sich mitnahm, wenn man sich in
die fernen Länder begab. „Den Nationalismus
kannten wir nur aus Witzen“, erinnert sich der
Schriftsteller Zalica in seinem Roman „Gelber
Schnee“. Es sind oft eben die Metaphern, die
bildhafte Künstlersprache, die als einzige das
Ausmaß der Zerstörung, deren Eigenschaft
und Unfaßbarkeit zu schildern vermögen: die
aus Containern heraushängenden Damen¬
beine in Seidenstrümpfen, die in Konserven
wühlenden, blutigen Schnauzen der alleinge¬
lassenen Rassenhunde, die herabbaumelnden
Füßchen des Kindes in Markenturnschuhen.
Und das alles mußte ausgerechnet an einem 6.
April anfangen, einem für Sarajevo ge¬
schichts- und symbolträchtigen Tag, an dem
die Stadt 1945 befreit wurde. Das Datum fei¬
erte man als Sieg über den Faschismus und als
Symbol des gemeinsamen, unerschütterli¬
chen Widerstands gegen das Böse von außen.
Walter, ein illegaler Widerstandskämpfer,
personifizierte im Stadtjargon, in Anlehnung
an die Sprache der heroischen Partisanen¬
filme, die ganze vereinigte Stadt. Nicht ein¬
mal in der späteren Pop-Kultur der Nach¬
kriegsgeneration wollte man auf die "Walter¬
Symbolik' und deren Erbe verzichten, auch
wenn man über das Pathos der sozrealisti¬
schen Ausdrucksweise zu lachen wußte.
Daher sind auch die Bewohner Sarajevos die
letzten, die an die Möglichkeit einer kriegeri¬
schen Auseinandersetzung in ihrer Stadt glau¬
ben wollen. Selbst wenn über das Zu¬
sammenziehen der schweren Artillerie in
Gebirgen um Sarajevo berichtet wird, und
nachdem die serbischen Märzbarrikaden die

Stadt schon einmal lahmgelegt hatten, wollen
die meisten die bittere Realität nicht wahr¬
nehmen.

Es wird aber zu verteidigen sein: nicht nur das
nackte Leben, auch das Leben einer Idee.
Umgeben vom bösartigen Gewebe des her¬
anwachsenden Nationalismus, der sich in sei¬
ner Logik bald ins Ungeahnte entwickelt und
in manches vorher völlig unbefangene Herz
hineindringt, halten viele Sarajevoer, Wahl¬
Sarajevoer und Exil-Sarajevoer unnachgiebig
und standhaft an ihrem Glauben fest. Bis heu¬
te.

Denn auch wenn die Struktur der Bevöl¬
kerung schon lange nicht mehr dieselbe ist,
wenn auch ganz Bosnien durch Gewalt auf¬
geteilt und lange von einer verdreifachten eth¬
nischen Monopartei regiert wurde, darf und
kann Sarajevo nicht zum Symbol einer verlo¬
renen Welt werden. Solange es diejenigen
gibt, die nur dadurch, oder dadurch am voll¬
kommendsten, ihre Identität erklären können,
bzw. wollen. Diejenigen, die Sarajevoer-Sein
oder Bosnier-Sein als Lebenseinstellung, als
Gesinnung mit in die Welt nehmen.

Einer der größten Kämpfer für die Sache, der
geniale, aus Montenegro stammende Dichter
und Wahl-Sarajevoer Marko VeZovie drückt
das so aus:

„Um Bosnien zu kämpfen, das wußten wir im
voraus, das ist eine Sache genauso vergeblich
wie verpflichtend. Verpflichtend, weil es un¬
sererseits ganz und gar nicht menschlich
wäre, sofort und im voraus die Hände von un¬
serer Welt abzuziehen, nur weil wir wissen,
daß sie zu Tode verurteilt ist... Und das be¬
deutet, daß jenes ehemalige Bosnien für uns
unzerstörbar bleibt, bis ans Ende unseres
Lebens. In unseren Köpfen ist jenes Bosnien,
ein nicht in drei Teilen zugrunde gewirtschaf¬
tetes, gewesen und geblieben: die natürlichste
Sache der Welt. Und deswegen wird dieses
heutige, das aufgeteilte, in unseren Köpfen für
immer und ewig gelten — als etwas nieder¬
trächtig Unterstelltes anstatt jenes richtigen.“

Verstreutes

„Also, Celan mit seiner schwarzen Milch hal¬
te ich eh für Edelkitsch und mit Baudelaire
und den Surrealisten habe ich auch nicht viel
auf dem Hut.“

.... halte ich eh ...: das bedarf keiner weiteren
Erläuterung. Der Gesprächspartner ist ohne
Umschweif in die Komplizenschaft eines
fragwürdigen Urteils gezogen.

Das Zitat stammt von der Wiener Autorin
Liesl Ujvary, die in der Zeitschrift für Lite¬
ratur kolik (Nr. 17, S. 105) von Martin
Kubaczek interviewt wird. Kubaczek hätte
nachfragen können. Er hat es nicht getan.
Also frage ich: „Warum, Frau Ujvary, halten
Sie ‚Celan mit seiner schwarzen Milch ... eh
für Edelkitsch’? Und warum glauben Sie, daß
Sie das im Stil eines literarischen Volks¬
vorurteils zum Besten geben können?“ —- K.K.

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