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Das Spektrum ist weit gespannt. Der kurdi¬
sche Freitheitskämpfer Sedat Demirdegmez,
ursprünglich Englischlehrer in der Türkei,
heute Jugendbetreuer in Wien, schildert die
Geschichte seiner Flucht lebendig und ein¬
drucksvoll. Für diese besondere Leistung er¬
hielt er den ersten Preis. Nahid Baghe¬
ri-Goldschmid, Literaturwissenschaftlerin aus
Teheran, jetzt in Europa und in den USA als
Radiojournalistin tätig, erzählt von ihren er¬
sten Eindrücken und Begegnungen in Wien,
von Fremdheit, Einsamkeit und verhaltener
Suche nach menschlicher Nähe. In Prosa und
feinsinnigen Gedichten präzisiert sie das
Gefühl des Flüchtlings: „Eine Heimat hofie¬
rend, die sich ihm nicht hingibt.“ An Nahid
Begheri-Goldschmied wurde der Lyrik-Preis
vergeben. Der Perser Hamid Sadr, bereits in
seiner Heimat als Schriftsteller erfolgreich,
hat in Österreich studiert und lebt nach ver¬
schiedenen Auslandsaufenthalten als freier
Schriftsteller nun wieder in Wien, wo er be¬
reits mit Lyrik, aber auch mit Prosa Erfolge
feiern konnte. Ihm wurde der zweite Preis zu¬
erkannt. Christina Pawlowitsch, Österreiche¬
rin mit kroatischen Wurzeln und neben ihrem
Studium berufstätig, schreibt über Zusam¬
menarbeit und persönliche Verbundenheit
mit Fremdarbeitern im heimischen
Gastgewerbe. Ihr wurde ein Förderpreis zu¬
gesprochen. Interessantes erfahren wir auch
von der Kärntner Pädagogikstudentin und
freien Schriftstellerin Simone Schönett, die
nach ihren jenischen Vorfahren, den soge¬
nannten „weißen Zigeunern“, sucht und viel
Wissenswertes über „die Jenischen‘“ von ge¬
stern und heute zutage fördert. Mit dieser
Arbeit konnte sie den dritten Platz behaupten.
Den Preis für muttersprachliche Autoren er¬
hielt Barbara Maria Wedenigg, eine
Kärntnerin slowenischer Herkunft, die schon
als junges Schreibtalent beim Ingeborg
Bachmann-Preis auf sich aufmerksam ma¬
chen konnte. Mit ihrem Beitrag zur
Anthologie gibt sie durchaus Anlaß, auf wei¬
tere Erfolge zu hoffen.
Den Texten der PreisträgerInnen folgen Inter¬
views. Die AutorInnen geben Einblick in ihr
literarische Schaffen, ihren Lebensweg, in die
vielfältige Gedanken- und Erfahrungswelt
von „Grenzgängern“.
Wie immer beteiligten sich auch Jugendliche
am Projekt der Edition Exil. „Die Erde hat...
wie nennt man das nur... Menschen hat sie!“
Dieser Satz aus Jura Soyfers Weltuntergang
regte die Schülerinnen und Schüler eines
Wiener Realgymnasiums zu schriftlichen
Darstellung in 25 Sprachen und Schriftbildern
an. Eine Augenfreude und — ein Satz, der
nicht nur fiir eine Handvoll engagierter
Jugendlicher zum Thema werden sollte.
Rosemarie Schulak

Christa Stippinger (Hg.): grenzGdnger. ant¬
hologie. das buch zum literaturpreis ,, schrei¬
ben zwischen den kulturen“ 2001. Wien:
edition exil 2001. 154 S.

Wo ich fliichtig gewesen bin

lautet der Buchtitel der neuesten Edition aus
dem Nachlaß von Florian Kalbeck. Also Wien
— und Flucht in die innere Emigration. Ein
„Grantscherben“, der sich nach seinem
Berufsleben Stille verordnet hat, um Prosa zu
schreiben, zum Beispiel den Roman „Das
Haus der Schwestern Linksy“ oder die „Er¬
kundungen des Doktor Domola“, aber auch in
seiner ureigensten Domäne: Dramatisches.

Der vorliegende Band sammelt posthum
Theatersachen, darunter das oft gezeigte
Fernsehspiel „Die Frau Gerti“ (eine selbst¬

Prägung). Von den drei ,,Stickln“ der Ein¬
akterrevue „Nix wie Zores“ muß sich der Le¬
ser leider mit nur einem davon, nämlich
„Hersch und der Rebbe“, begniigen, in der die
köstliche Figur des jüdischen Eulenspiegels
aus Ostropolje mit den Wortspäßen des
Autors glänzt.
Die „Haßkomödie“ aus den frühen Achtzigern
soll Kalbecks „spätes Entsetzen über jüdische
Existenz nach Auschwitz“ literarisch reflek¬
tieren. Mit wenigen Personen und einem ein¬
zigen Bühnenbild gelingt es ihm, Tragisches
und Komisches zu vereinen, jedoch jeden ge¬
gen jeden auszuspielen, wobei auch in diesem
Stück der Dialog Priorität hat.
„Das blaue Stück“ entpuppt sich als eine
geistreiche Verspottung der Theaterdramatur¬
gie, überspitzt, aber witzig. Die längst gekün¬
digten Akteure (Dramaturg und Sekretärin)
haben sich in ihrem Büro verschanzt, um wei¬
terhin ihr „Unwesen“ treiben zu können, be¬
droht nur von zwei wiener Urtypen (einem
Greißler und einem Hofrat), die sich wie zwei
verkannte Theaterdichter gebärden. Ironi¬
sches, Groteskes und Absurdes finden sich ab¬
wechselnd in einem Milieu, das unschwer als
das Theater in der Josefstadt zu erkennen ist,
wo Florian Kalbeck durch viele Jahre selbst
Dramaturg war. In diesem Stück war er nicht
flüchtig, sondern ganz und gar zu Hause.
Emmerich Kolovic

Florian Kalbeck: Wo ich flüchtig gewesen
bin. Ein Wien-Buch. Aus dem literarischen
Nachlaß ausgewählt, hg. und mit einem
Geleitwort versehen von Judith Pör Kalbeck.
Wien: Edition Atelier 2001. 289 S. Euro 25,45

Buchzugänge

Evelyn Adunka: Der Raub der Bücher. Plün¬
derung in der NS-Zeit und Restitution nach
1945. Wien: Czernin Verlag 2002. 309 S.

Carol Ascher: Die Flut. Roman. Aus dem
Amerikanischen von Sabina Illmer. Wien:
Picus Verlag 2002. 235 S. Euro 18,90/SFr
33,40 (Österreichische Exilbibliothek. Hg.
von Ursula Seeber).

Detlef Bald, Johannes Klotz, Wolfram Wette:
Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und
Traditionspflege. Berlin: Aufbau Taschen¬
buch Verlag 2001. 211 S. Euro 8,50/SFr
15,80

Rudolf Burger: Ptolemäische Vermutungen.
Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten.
Lüneburg: Verlag zu Klampen 2001. 263 S.
Euro 19,-/SFr 35,10

Neuer Sammelband des in ZW Nr. 2/2001 als
„Stadtschreiber von Vineta“ porträtierten
Wiener Philosophieprofessors, dessen Essay
„Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Ein Plä¬
doyer für das Vergessen“ in Österreich nicht
nur Staub aufwirbelte, sondern vor allem
ernste Widerrede hervorrief. Solche Wider¬
rede hat Burger unlängst als bloßen Aus¬
druck einer hysterisch nach Ereignissen
lechzenden Unkultur der Massenmedien ab¬
getan. Hier nun läßt sich die intellektuelle
oder vielmehr ideologische Vorgeschichte
von Burgers Philosophie des Vergessens stu¬
dieren, sein Geistesaristokratismus, den einst
Peter de Mendelssohn treffend am Beispiel
des von Burger verehrten Ernst Jünger cha¬
rakterisierte. Daß das Buch mit einem
Gottfried Benn-Zitat anhebt, markiert in an¬
derer Weise Burgers Rückkehr in die frühen
1960er Jahre.

Anne-Marie Corbin: L'image de l'Europe a
l'ombre de la guerre froide. La revue Forum
de Friedrich Torberg 4 Vienne (1954- 1961).
Paris: L'Harmattan 2001. 382 S. Euro 29,—

Reinhold Eckfeld: Letzte Monate in Wien.
Aufzeichnungen aus dem australischen
Internierungslager 1940/41. Hg. von Martin
Krist. Wien: Turia + Kant 2002. 109 S.

Paul Elbogen: Der Flug auf dem Fleckerl¬
teppich. Wien — Berlin — Hollywood. Hg. von
Giinter Rine. Mit einem Nachwort von Hans¬
Harald Miiller. Wien: Picus Verlag 2002. 200
S. Euro 18,90/SFr 33,40 (Osterreichische
Exilbobliothek. Hg. von Ursula Seeber).

Bettina Engelmann: Poetik des Exils. Die
Modernität der deutschsprachigen Exillite¬
ratur. Tübingen: Max Niemeyer 2001. 450 S.
Euro 70,-/SFr 120,- (Untersuchungen zur
deutschen Literaturgeschichte. Bd. 109).

Felicja Karay: Wir lebten zwischen Granaten
und Gedichten. Das Frauenlager der Rü¬
stungsfabrik HASAG im Dritten Reich. Aus
dem Hebräischen von Susanne Plietzsch.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001. 223 S.
Euro 20,50. (Eine Veröffentlichung des
Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismus¬
forschung e.V. an der Technischen Univer¬
sität Dresden).

Holm Kirsten, Wulf Kirsten (Hg. im Auftrag

der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora): Stimmen aus Buchenwald.

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