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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Miss Wägner, deine Englischlehrerin, hat während der Nazizeit auch „U-Boote“ bei sich versteckt? Ja, bei Paula Wägner wohnte bereits 1941 oder 42 ein „UBoot“, und zwar hatte sie ihre eigene alte Englischlehrerin, eine „Miss“ Ottorogo, zu sich genommen. Als ich einmal meine Bewunderung dafür ausdrückte, zumal die vielen Leute, die zum Unterricht kamen, es merken mußten, sagte sie mir: „Ich krieg’ jetzt noch ein ‚U-Boot‘, einen Herrn.“ Ich fragte sie, wer denn das sei. Und da hat sie gesagt: „Ich kenn’ ihn noch nicht. Er kommt diese Woche. Die Olga und der Erwin Ratz’ haben mir gesagt, ich muß was für ihn tun.“ Und das nächste Mal, als ich dort hinkam, war der „Herr“ schon da. Es war Dr. Josef Polnauer’, auch ein Schönberg-Schüler, der in der Musikgeschichte Wiens, wie soll ich sagen, die Rolle einer grauen Eminenz spielte. Er war weder Musiker, noch hat er, so viel ich weiß, irgend welche Musikschriften verfaßt. Er war aber, speziell da Schönberg weg war, gewissermaßen ein Stellvertreter, denn ich weiß, daß nach der Hitler-Zeit eine Menge Leute, die also Enkelschüler der Zweiten Wiener Schule wurden, bei Polnauer Studien gemacht haben. Ich glaube auch Gielen’, sicher aber Karl Heinz Fiissl’. Dir war klar, daß es sich bei Polnauer und Ottorogo um „UBoote“ handelt. Wußten das auch andere Schüler? Das weiß ich nicht, das hat mich auch nicht gekümmert. Aber das ist doch interessant, wie man damit umgegangen ist, es war doch lebensgefährlich! Es war sicher lebensgefährlich, noch dazu weil Paula eine ziemlich kleine Wohnung hatte, ein Schüler mußte dort unausweichlich Polnauer begegnen. Natürlich haben alle Bekannten geholfen, denn ein Problem war auch, die Leute durchzufüttern. Sie hatten schließlich keine Lebensmittelkarten, und ich vermute, daß auch Erwin Ratz, der die große Bäckerei auf der Favoritenstraße hatte, irgendwie geholfen hat. Aber das ist eine später gehegte Vermutung. Ich war doch noch ein halbes Kind und das war nicht so in meinem Gesichtskreis. Zu Hause allerdings hatten wir auch ein „U-Boot“, zumindest zeitweise, und zwar eine Schwester meines Vaters. Sie war allein, da ihr Mann und auch ihr Sohn schon vorher ausgewandert waren. Sie mußte aus ihrer Wohnung raus, und hat dann irgendwo im zweiten Bezirk gewohnt. Eines Tages suchte meine Mutter sie aus mir nicht bekannten Gründen auf. Die Tante hat in einer Wäscherei gearbeitet, und meine Mutter hat nur gesehen, daß vor ihrem Wohnhaus einer der berüchtigten Lastwagen gestanden ist, in die man die Leute verfrachtet hat. Sie ist dann in die Richtung gegangen, von der sie vermutete, daß die Tante heimkommt, und ist ihr auch wirklich begegnet. Sie hat ihr gesagt: „Du kannst nicht nach Hause gehen, du kommst jetzt mit mir.“ So sind wir zu dem „U-Boot“ gekommen, wobei ich sagen muß, daß sehr viele Leute mitgeholfen haben. Manche haben sie für eine Woche oder für Monate aufgenommen. Denn wenn jemand in unserem Wohnhaus sie gesehen hat, mußte man alles tun, daß sie in der nächsten Zeit woanders wohnen kann. Eine ganz besonders rührende Geschichte weiß ich noch: Die Tante ist einmal auf der Mariahilfer Straße gegangen und eine Frau, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, redet sie plötzlich an: ‚Ja, Frau Bem, was machen‘S denn da und warum schaun‘S so drein‘“? Und da hat sie erzählt was los ist. Die Frau sagt ihr, wenn sie einmal gar keinen Unterschlupf hat, dann soll 14 sie zu ihr kommen und gibt ihr die Adresse. Meine Mutter war aber der Meinung, so einfach kann man sie nicht hinschicken, man wußte ja nicht, wer die Leute waren. Also ist sie zuerst einmal selber hingegangen und hat mit der Frau und auch mit dem Mann gesprochen, und war dann so überzeugt, daß sie die Tante wirklich hinschickte, und die hat dann wochenlang dort gewohnt. Wie viele „U-Boote“ hast du gekannt? Ja, die zwei von der Paula, meine eigene Tante und dann habe ich noch ein Ehepaar gekannt, das sich gewissermaßen auf eigene Faust durchgeschlagen hat. Das war ein Herr Fleischmann mit Frau, der eines Tages untergetaucht ist und sich den Leuten gegenüber als ein Mann aus der Provinz ausgab, der öfter für ein paar Tage in Wien ist und deshalb für sich und seine Frau ein Zimmer braucht. Und so hatte er mehrere Quartiere in Wien, wo er immer nur ein paar Tage wohnte. Gelebt hat er vom Schleichhandel. Er nannte sich Walter, wenn ich mich recht erinnere. Wenn jemand bei ihm ein Kilo Schmalz und zwei Kilogramm Mehl bestellte, ist er nach mehreren Tagen wiedergekommen und hat das gebracht, und die Leute haben die Lebensmittel bezahlt. Er hatte irgendwelche Quellen, wo er einkaufen konnte und hat mit Gewinn wieder verkauft. So hat er sich tatsächlich bis in den Frühling 45 durchgeschlagen, ist dann aber sofort mit seiner Frau ausgewandert. Er hat gesagt, in einer Stadt, wo er so viel Angst ausstehen mußte, wolle er nicht länger leben. Über deinen Vater hast du noch nichts erzählt. Mein Vater hatte eine Einzelhandelsfirma, die er im Jahr 38 nicht weiterführen konnte und war daher zu Hause. Meine Mutter arbeitete in einem Büro und hat die Familie erhalten. Mein Vater übernahm damals, ohne viel Aufhebens davon zu machen, den Haushalt, was er vorher nie gemacht hat. Ohne daß es ihm jemand gezeigt hätte, hat er phantastisch gekocht, die Frauen im Haus sind zu ihm gekommen, wenn ihnen der Strudelteig nicht gelungen ist, und er hat ihn gezogen. Ab April 45 hat er in der Küche nie wieder einen Finger gerührt. Wem bist du bei Paula Wägner noch begegnet? Erwin Ratz natürlich und seiner damaligen Partnerin Lizzy Berner — später die vielleicht berühmteste Konzertbesucherin von Wien: täglich im Konzerthaus, und im Sommer in Lockenhaus und in Salzburg. Sie hat damals mitgewirkt bei der Aufführung eines Brandburgischen Konzerts von Bach, die wir bei Olga Novakovic veranstaltet haben, zu viert an zwei Klavieren. Ich erinnere mich, auch Polnauer war dabei. Der ist als „U-Boot“ von der Brückengasse auf die Wienzeile marschiert, und hat ein bisserl den Takt geschlagen, damit das mit den zwei Klavieren klappt. Eines Tages bin ich zu Olga gekommen und habe an der Tür des Eckzimmers, in dem die zwei Klaviere gestanden sind, angeklopft. Ich fand einen relativ jungen, mir unbekannten Mann vor, der bei meinem Eintreten aufstand, den Arm ausstreckte und „Heil Hitler‘ sagte. Ich bin furchtbar erschrocken und habe auch „Heil Hitler“ gesagt. Erst nachher hat sich herausgestellt, es war der Friedrich Wildgans, der gerade aus dem Gefängnis gekommen ist.° Ich bin ihm sehr bald wieder begegnet, weil mich Olga fragte, ob ich nicht an einem Kurs für Instrumentenkunde teilnehmen möchte, ein Kurs, den Wildgans in einer Privatwohnung halten wird, und ich sag