Musik, der Gegenstand meiner Disziplin, der Historischen
Musikwissenschaft, Musik ist bekanntlich in praktisch keiner¬
lei Hinsicht von uns Musikwissenschaftlern abhängig oder auf
uns angewiesen. Wir machen die Musik nicht, für ihre Ver¬
breitung brauchen wir kaum zu sorgen, unser Urteil als Exper¬
ten bewirkt nahezu nichts. Damit will ich beileibe nicht sagen,
die Musikwissenschaft sei unnütz und nutzlos. Das Machtlose
besitzt Charme, denn niemand muß es fürchten; das Einflu߬
lose ist frei von Rücksichten, denn es hat ohnedies nichts zu
erwarten; das nicht unmittelbar Brauchbare vermag uns zu fas¬
zinieren, denn es nützt sich in keiner Verwendung ab, verweist
auf Neues.
All dies ist unbestreitbar wahr, trotzdem — und auch das ist
nur zu begreiflich — erfaßt den Musikhistoriker angesichts des¬
sen, was ihm pauschal als „Öffentlichkeit“ erscheint, merkliche
Unsicherheit. Unsicherheit ist unangenehm, und man sucht sie
verständlicherweise zu überwinden. Dabei neigt die historische
Musikwissenschaft — und sie ist hier wahrlich nicht die einzige
akademische Disziplin — zu einer Bewältigungsstrategie, die
man mit Sigmund Freud „Identifikation mit dem Aggressor“
nennen könnte. Unsere öffentliche Darstellung ist eine der
Anpassung. Dabei werden wir leicht Opfer der eigenen gelehr¬
ten Weltfremdheit: Das „Draußen“, die „Öffentlichkeit“, vor der
wir uns möglichst attraktiv produzieren sollen, weil wir von ihr
Geld und Ansehen erwarten, stellen wir uns gern wie einen ein¬
heitlichen, kompakten Block vor. Wir wenden uns daher zu¬
meist an eine sogenannte „herrschende Meinung“, an ein offi¬
ziell Sanktionierendes und Sanktioniertes. Dessen Sprache ver¬
suchen wir dann selber zu sprechen. Wir werden gleichsam zu
unseren eigenen Ghostwrightern und produzieren Sätze — Bei¬
spiele habe ich Ihnen genannt —, die wir im nachhinein unter
Umständen gar nicht mehr als die eigenen erkennen können
oder wollen.
Freilich, die Welt außerhalb der Mauern eines musikwis¬
senschaftlichen Instituts ist gar kein monolithischer Block. Wir
leben doch - entschuldigen Sie, daß ich hier solche Platitüden
von mir gebe —, wir leben doch in einer Welt vielfältigster, di¬
vergentester Parteiungen und Gegensätze. Sich als esoterische
akademische Disziplin an die Öffentlichkeit zu wenden, heißt
eben: Stellung beziehen, kritisieren, eingreifen, protestieren.
Öffentlichkeit ist nicht nur, was man im neuesten Bundes¬
gesetzblatt nachlesen kann.
Damit bin ich endlich bei meinem dritten Punkt (einer ver¬
hängnisvollen Konstellation) angelangt: Als wir uns endlich
nicht länger der Einsicht verschließen konnten, daß die offizi¬
elle Öffentlichkeit eine sogenannte „Aufarbeitung der Vergan¬
genheit“ ganz gerne sehen würde, entschlossen wir uns, die
Geschichte der Musikwissenschaft in Wien und namentlich die
dieses Instituts zu erforschen. Ich habe dann ein Projekt ein¬
gereicht, das — es wird im Jahr 2000 gewesen sein — als nicht
förderungswürdig befunden wurde. In der Begründung der
Ablehnung wird als erstes und offenbar gewichtigstes
Argument folgendes vorgebracht: „Das Grenzjahr 1960 [so
weit wollten wir in unseren Untersuchungen gehen] liegt erst
vier Jahrzehnte zurück, so daß die Frage zu stellen ist, ob hier
wirklich unabhängige, kritische Forschung bereits möglich ist“
usw. Gut dachte ich mir damals insgeheim, dieser Kelch ist
wohl an mir vorübergegangen, andere, denen aufgrund späte¬
rer Geburt ein vielleicht wirklich objektiverer Blick auf die
Fachgeschichte möglich sein wird, mögen das später unter¬
nehmen, was uns verwehrt wurde.
ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
Und was lese ich jetzt im Entwurf des Bundesarchivgesetzes,
das mit 1. Jänner 2002 in Kraft treten soll? „Schriftgut‘“ seit dem
1. November 1955, „bei dem die Aufbewahrungsfrist [...] ab¬
gelaufen ist und das sich bereits im Österreichischen Staats¬
archiv befindet, ist von diesem zu vernichten.“ Aufzubewahren
sind ab nun überhaupt nur mehr hochoffzielle Dokumente.
„Aufzeichnungen und Notizen‘ wie Nachlässe sind von vorn¬
herein auszuscheiden bzw. zu vernichten. „$ 5 Abs. 4 Bundes¬
archivgesetz ermächtigt nunmehr die Bundesregierung, mittels
Verordnung festzustellen, welches Schriftgut offenkundig unter
Denkmalschutz steht und damit als Archivgut des Bundes gilt.“
In wünschenswerter Deutlichkeit wird hier ausgesprochen, daß
die Regierung darüber entscheidet, aufgrund welcher Doku¬
mente künftig die Geschichte dieses Landes geschrieben wer¬
den soll und kann.
Ich fürchte daher, daß die mir nachfolgenden musikwissen¬
schaftlichen Generationen nicht das werden leisten können,
was wir nicht getan haben bzw. tun konnten. Wir erhielten kei¬
ne Unterstützung bei der Aufarbeitung der Fünfziger- und
Sechzigerjahre, weil diese Zeit noch zu nahe wäre. Die, denen
diese Zeit ferner gerückt ist, werden vieles nicht mehr finden.
Was bleibt also zu tun? Es wird für uns Musikwissen¬
schaftler, so wir nicht zu bloßen akademischen Erfüllungs¬
gehilfen der touristischen Bereiche des hochoffiziellen
Österreich werden wollen, endlich nötig sein, uns den Wider¬
sprüchen dieser Welt und daher auch dieses Landes zu stellen.
Ich habe Ihnen mit meinen Beispielen einen dreifachen Verlust
anzudeuten gesucht, der die Musikwissenschaft - freilich nicht
nur diese — bedroht: erstens den Verlust der Erinnerung (Was
hat er denn nur gemacht?), zweitens den Verlust der Sprache
(Was haben wir denn nur damit sagen wollen?), drittens end¬
lich den Verlust des Materials, aus dem wir unsere Geschichts¬
schreibung entwickeln könnten (Wo nichts ist, da läßt sich
nichts erforschen). Um diesen Gefahren zu begegnen, ist es ne¬
ben allem anderen nötig, wach und aufmerksam zu sein.
Beides aber ist doch eine Haltung, die wir vom Umgang mit
„unserem“ ureigensten Material, mit der Musik eben, bestens
kennen. Wach und aufmerksam hören wir aber nicht nur
Musik, um zu verstehen. Hören wir darum, was uns dieser Tag
über Israel Alter, über Kantoralmusik, über unsere Geschichte
und Tradition und über uns selbst zu sagen haben wird.
Orpheus Trust — Verein zur Erforschung und Veröffentlichung
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