weist täglich als ständige BesucherInnen eine Gruppe Obdach¬
loser auf, die ihr Reich inmitten der Intimitäten seltener ande¬
rer BesucherInnen, die ihre Hunde „Gassi führen“, lautstark zu
behaupten wissen. Die rechte Hälfte ist diejenige, die mich
mehr interessiert: die Hausfront gegenüber der Kirche besteht
aus Geschäften, die sich jeden Morgen mit einer enormen Wa¬
renmischung auf dem Trottoir ausbreiten. Die Verkäufer sitzen
auf der dem Geschäft gegenüberliegenden Seite auf kleinen
Stühlen und mustern jeden potentiellen Käufer. Gibt es keinen,
dann reden sie von Stuhl zu Stuhl miteinander. Es sind Türken,
Serben, Wlachen, Albaner, Polen, osteuropäische Juden, Roma
und viele andere dort, die einem begegnen und miteinander
ewig andauernde Diskussionen führen. Wenn sie nicht mit
Münzen-am-Strich-Werfen beschäftigt sind. Derjenige, der mit
seiner Münze dem Strick am nahesten ist, nimmt alle anderen
Münzen an sich. Auch eine Form der Umverteilung. Die ande¬
re Seite der blinden Gasse dient als Erholungsgebiet; die Bänke
sind voll mit Großmüttern, deren Enkel Fußball spielen, die
Kirchentreppen bevölkern die Jugendlichen, die gerade keine
Lust haben, sich im nahe gelegenen Jugendzentrum aufzuhal¬
ten. Der offizielle Kinderspielplatz hat sich des großen Raumes
bemächtigt und schaut zu: Es sind keine Trennungen zwischen
den Generationen mehr zu beobachten. Alle tun das Ihre, und
keiner stört die anderen. Keine Trennungen zwischen den Ge¬
nerationen und keine zwischen die MigrantInnen. Denn an die¬
sem Platz spielt jeder seine Kinder- und Erwachsenenspiele,
ohne den anderen auf die Nerven zu gehen. Es ist ein reizvol¬
les Wechselspiel: Die Hausfront mit den Geschäften, die auf der
anderen Seite des Gehsteiges anbietenden Männer, die Blind¬
gasse mit den falsch geparkten Autos und dann das Gebiet der
Gemeinsamkeiten als Freizeitvergnügungs- und Diskussions¬
raum vor der Kirche, die von niemandem besucht wird; ein
Sinnbild des möglichen Wiens, das es in dieser Form vielleicht
noch am Brunnenmarkt (ohne Spielraum) anzutreffen gibt. Alle
Gesichter lassen eine bewegte Geschichte erahnen; doch die
Gegenwart hat sich hier weitgehend befreit und breit gemacht.
Die Erzählungen all dieser Menschen werden von niemanden
geschrieben. Sie gehören zu denjenigen, deren Sprache das of¬
fizielle Wien nicht spricht.
Obwohl der Mexikoplatz außer seinem
weltenhaften Rhythmus keinen Komfort zu
bieten hat, und die Besitzer der umliegen¬
den Häuser jeden ihrer Mieter alle sechs
Monate bis drei Jahre in eine andere
Wohnung in einen anderen Stock desselben
Hauses übersiedeln, ist dieser Platz derje¬
nige, dem es nie an Menschen fehlt. Zur je¬
der Tageszeit. Keiner weiß zu sagen, wie
viele von diesen Platzbewachern auch die
umliegenden Häuser bewohnen. Und ich
frage mich, ob ein Organismus dieser
Intensität in so farbenfroher Verfassung
überhaupt noch zu beschreiben ist. Der
Mexikoplatz und das Stuwerviertel, in dem
er liegt, war seit jeher ein Armenviertel.
Früher der ärmere Teil des „Judenbezirkes“
Leopoldstadt, in der Nähe zum „Würstel¬
prater“, einem Allround-Jahrmarkt, war er
ein Platz, in dem diejenigen, die sich nicht
registrieren wollten, Unterschlupf fanden.
War und ist. Es sind die MigrantInnen, die
illegalisiert werden, die heutzutage diese
Rolle in der österreichischen Gesellschaft zu erfüllen haben.
Das Gemisch der Sprachen versteckt eine Einheit dahinter: alle
diese Menschen sind unerwünscht in Österreich und das wissen
sie. Also bilden sie ihre Kolonien, in denen sie sich mit einem
ständigen Informationsaustausch gegenseitig helfen und unter¬
stützen. Nicht deswegen, weil sie miteinander solidarischer sind
als local people, sondern weil sie auf diese Art der
Gegenseitigkeit angewiesen sind. Ich weiß nicht, wie sie sich
verhalten würden, wenn sie genügend Geld hätten, in einem
Wiener Elite-Bezirk zu wohnen. Die Stadtverwaltung duldet
dieses Durcheinander (aus bürokratischer Sicht) und die
Unkontrollierbarkeit, weil sie nicht bereit ist, diesen Menschen
mehr als eine Übergangslösung zu bieten; ein Übergang als
Arbeit, als Wohnung, als Kunde und als Mensch. Am Ende - so
hofft die sozialdemokratische Regierung Wiens — entstehen
wieder ethnisch reine Verhältnisse, die durch das Prinzip des
„Sozialismus in einem Land“ zu bewerkstelligen wären. Wer
den Kürzeren in diesem Spiel zieht, wird die Zukunft zeigen;
die Chancen der MigrantInnen, es nicht zu sein, stehen zur Zeit,
trotz allen Repressalien, gar nicht so schlecht.
Die Klagen über die Zustände am Mexikoplatz werden
wahrscheinlich, wie dieser Platz selber, nie verstummen. Es
sind viele Träume - nicht zuletzt erotische — darauf verschwen¬
det worden, was man dort nicht alles kaufen kann. Als Ver¬
mischung dieser sexistischen Träume mit der harten Realität des
Rassismus stehen am und um den Mexikoplatz immer
Polizisten als vermeintliche Herren der Situation. Von der
Mimikri haben diese Menschen der Macht noch nichts gehört.
Und es ist auch gut so, nur sie erahnen, daß das ihnen zuge¬
worfene Lächeln und die Zustimmung einem anderen gelten,
einem System, das sie eher ausschließen als einschließen wür¬
de, und deswegen schlagen sie manchmal bei den Legiti¬
mierungen härter zu: die Polizisten. Alle Maßnahmen sind wie
ein Tropfen auf dem heißen Stein. Anfang der Neunziger, nach
dem großen Aufbruch im Osten, gab es auch am Mexikoplatz
einen Stimmungswechsel, mehr Euphorie und auch mehr Öf¬
fentlichkeit im Angebot. Das haben die Polizisten und die
Stadtverwaltung erfolgreich eindämmen können. Seit damals
spielt sich alles, wie üblich in der Geschichte dieses Platzes, im