in der Rhythmik dieses Platzes spiegelt sich, zeigt sich ein he¬
gemonial abgestuftes soziales System, in dem es eine ununter¬
brochene Verzahnung von Aufnahmen und Ausgrenzungen gibt.
Abgeschieden und doch aufeinander bezogen liegen Quartiere
nebeneinander; Häuser, die einmal von den Reichen bewohnt
waren neben solchen Bassenahäusern und noch niedrigeren
Armenheimen. Es sind weit mehr als Wohngebiete. Sie stellen
die Territorien dar, die nicht mehr da sind, genau so wie die
Zeit, in der sie gebaut wurden. Wobei die sozial niedrigsten
Klassen mitunter gemeinsam mit den damaligen MigrantInnen
in den Erdlöchern untergebracht waren. Es sind die Sprach¬
losen, deren Geschichte sich in der Sprachlosigkeit der am
Mexikoplatz wohnenden MigrantInnen fortsetzt. Einerseits
folgte die Geschichte der sozialen Zirkulation der gesellschaft¬
lichen Abstufung, andererseits gelingt es eben diesen Mi¬
grantInnen einmal, dem gesondert gedachten Netz von Reich¬
Arm, von Segregation, doch zu entgehen.
Es entsteht ein Rhythmus, in den die Marginalisierten ein¬
gebettet werden und so wenigstens für einen kurzen Moment
lang innehalten oder vergessen. Ich, als Fußgänger und Kunde,
erlebe ein Miteinander, das in dieser Symbiose der Gegen¬
sätzlichkeiten im letzten Jahrhundert gewachsen ist. Es sind hier
auch die ökonomischen und sozialen Beziehungen, die Ab¬
hängigkeiten schaffen und Geschichte schreiben. Die Quartiere,
die ihre BewohnerInnen durch ständiges Umsiedeln aus einem
Stock in den anderen über Jahre hinweg gründlich atmen hören,
schaffen menschliche und verwandtschaftliche Beziehungen,
die Verpflichtungen stärken und verkomplizieren. Das Fami¬
liäre, das Ethnische, das Ökonomische und das Kulturelle
schließt die private und kollektive Nutzung dieser Räume in
sich hinein und es ist, als ob keiner dem zu entrinnen trachtet.
Alte und neue Traditionen
Es ist kein Schmelztiegel zu beobachten und auch keine
Salatschüssel, wie die Theoretiker der Migration einst (dump¬
fer geht es nicht!) ihre eigenen Ideale für die Zukunftsge¬
sellschaft schilderten. Hier herrscht Aufruhr. Ein Bewohner
oder ständiger Besucher des Mexikoplatzes versteckt nicht die
Bande seiner Herkunft. So gibt es dort Häuser, in denen sich
die ehemaligen Nachbarn im Dorf wieder nebeneinander an¬
gesiedelt haben. Sie konservieren ihre Tradition, feiern ihre
Feste und tragen das Landleben, dem sie entstammen, unbe¬
irrt auf die Straße. Andererseits läßt die Umgebung die Mi¬
grantInnen sich nicht nur an die vermeintlichen mitgebrachten
Traditionen klammern: die Anwesenheit anderer Sprachen,
Küchen, Religionen, Verhaltens- und Organisationssysteme
läßt diese Menschen auch erahnen, daß die Begegnungen in
Zukunft unwiederholbare, nicht mehr zurückführende Welten
mit sich bringen werden. Ein unvermutetes und niemand stö¬
rendes Nebeneinander wird so zu einem rhythmischen Ge¬
fühl. Unvermeidbar und unbezwungen erleben diese Men¬
schen gemeinsam die umringende, in sich eingebettete
Urbanität. Es scheint sich hier eine eigene Grammatik einge¬
nistet zu haben. Diese differenziert zwar, wer in welcher
Wohnung lebt und wohnt, auf der Straße aber heben sich die¬
se Grenzen wieder auf. Somit steht hier die Straße, der öf¬
fentliche Raum, der für alle BewohnerInnen antastbare, im
Mittelpunkt, ohne sich der Privatsphäre einzelner zu berau¬
ben. Der Okzident gibt nach und wird weicher, um so die
Machtverhältnisse besser festigen zu können, denn es ist klar,
daß hier die „local people“ noch immer die Wortführer sind,
aber auch sie, ähnlich den Polizisten, sind sich nicht mehr so
sicher, derart konfrontiert mit der Realität des Einwande¬
rungslandes.
Ljubomir Brati6, geboren in Velika Kamenica (Jugoslawien),
kam im Alter von zehn Jahren nach Österreich. Nach der
Matura Studium der Philosophie in Innsbruck. Arbeitet als
Betreuer im Integrationshaus und ist Bundessprecher von
Austrian Network Against Racism (ANAR).
Speziell für das Mexikoplatz-Heft von ZW hat sich die
Fotografin und Filmemacherin Lisl Ponger mit ihrer Kamera
am Mexikoplatz umgesehen, hat fotografiert und charakteri¬
stische Gegenstände von der Straße aufgelesen oder in einem
der Läden eingekauft: Daraus entstand die Serie der Photo¬
gramme, verschiedene Arrangements des hier Gefundenen, di¬
rekt auf das Fotopapier gelegt und dann belichtet.
Lisl Ponger, heuer die einzige österreichische Teilnehmerin
bei der Documenta in Kassel, Tochter des in der Nazizeit in die
USA geflüchteten Kurt Ponger, wurde in Nürnberg geboren.
Sie besuchte die Photoklasse an der Graphischen Lehr- und
Versuchsanstalt in Wien; 1974-78 Aufenthalt in den USA und
in Mexiko. 1988 erhielt sie den österreichischen Förderungs¬
preis, 1994 den Würdigungspreis für Filmkunst. Sie ist Mit¬
glied der Wiener Secession. 1998/99 und 2001/02 war sie
Gastprofessorin für Künstlerische Fotografie an der Univer¬
sität für Angewandte Kunst. Sie veröffentlichte die Foto¬
bücher: Doppleranarchie - Wien 1967-1972 (1990); Fremdes
Wien (1993); Xenographische Ansichten (1995). Zahlreiche
Ausstellungen in Wien, Genf, London. Filme: 1999: déja-vu;
1996: Passagen; 1990: Semiotic ghosts; 1988: Train of re¬
collection; 1987: Substantial shadows; 1986: Sound of space;
1985: Container-contained; 1984: Tendencies to exist; 1983:
Film — an exercise in illusion II; 1982: Souvenirs; 1981: The
four corners of the world; 1980: Film — an exercise in illusion
I, sowie: Lichtblitze; 1979: Space equals time-far freaking out.
Nina Jakl, den Lesern der ZW sozusagen als Hausfotografin
wohlbekannt, hat schon 1998 für das Schwerpunktheft „Exil in
Mexiko“ Aufnahmen am Mexikoplatz gemacht. Nina Jakl ist
als Tochter österreichischer Exilierter in Moskau geboren wor¬
den; nach Wien zurückgekehrt, war sie lange Jahre Biblio¬
thekarin am Institut für Slawistik der Universität Wien. Auch
als Mitarbeiterin am „Lexikon der österreichischen Exil¬
literatur“ (von S. Bolbecher/K. Kaiser) hat sie einen wesentli¬
chen Beitrag geleistet.