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Am nächsten Morgen fuhr ich hinaus in den Süden des Landes. Erinnerungen. An unsere erste gemeinsame Busfahrt nach Cuernavaca. Eineinhalb Stunden durch Kieferwälder. Du hast mir erzählt worauf ich achten muß. In Sorge um mich. Die Skorpione. Das Ausleeren der Schuhe das Schütteln der Kleider. Die schwarzen Witwen. Ihre unauffälligen Netze. Die kleinen todbringenden schwarzen Spinnen mit der roten Sanduhr auf dem Rücken. Luz Alba öffnete mir die Tür. Ich erschrak. Sie hatte ihren Namen verloren. Sie war ein weißes lichtes Wesen gewesen. Unbestimmbar alt. Damals. Sie war um Jahre dunkler geworden. Wir setzten uns auf die gelben Stühle in ihrem Salon. Tranken Cafe. Luz Alba begann zu weinen. Sie erzählte. Stolpernd. Stockend. Ihr Sohn Emilio sei vor zwei Jahren plötzlich verschwunden. Ich wußte nun. Warum Luz gealtert war. Sie die ewig zeitlos gewesen war. Dein Fehlen hatte eine Zeitrechnung in ihr Leben gerammt: Seit deinem Verschwinden. Ich wußte nun. Warum Luz ihre gelassene Souveränität verloren hatte. Gebrochen war. Weiter brach. Emilio sei vor zwei Jahren an einem Mittwoch verschwunden. Niemals bei einer Probe seiner Rockgruppe angekommen. Die Band hätte ihren Sänger gesucht. Sei verärgert gewesen. Anfangs. Nach drei Tagen Angst. Emilio war selten unzuverlässig gewesen. Nur wenn er verzweifelt war. Und trank. Und glaubte nichts ausrichten zu können gegen das Verschwinden von Menschen. Mit seinen Liedern. Einem der wenigen möglichen Wege unzensurierter Kritik. Als er sich eine Woche nicht bei seiner Tochter gemeldet hatte war allen klar: Es ist ihm etwas geschehen. Die Drohungen. Vor den Konzerten. Die Auftrittsverbote. Wegen den anklagenden Texten. Den Rest der Gruppe überfiel eine entsetzliche Angst. Die letzte Drohung wir werden euch zum Verstummen bringen usw. Verwandte. Freunde. Sie haben nach ihm gesucht. Zwei Jahre lang. In ganz Mexiko. In den Krankenhäusern. Auf der Straße. Sein Bild in allen Zeitungen. Die verheißenden Hinweise waren Enttäuschungen. Freunde haben ihre Beziehungen genutzt. Sie haben ihn in den Gefängnissen gesucht. Er blieb verschwunden. Man hatte ihn verschwinden lassen. Und mit ihm seine Stimme. Die für viele sprach. Die Rockgruppe war erfolgreich gewesen. Ich hoffe sie haben dich sofort getötet. Dich nicht bestialisch Tage und Wochen und Monate gefoltert. Dein Leichnam wurde nie gefunden. Und ich erinnere mich an einen Traum von dir. Du hattest nach einem Konzert vor dem eine Drohung kam geträumt man hätte dich ermordet. Und deinen toten Körper in den verwunschenen See im Norden Mexikos verschwinden lassen. Dieser tückische See. Er verschlingt Menschen. Die an ihm wohnen trauen sich nicht auf seine Oberfläche. Deine Mutter deine Tochter deine Freunde haben beschlossen daß du tot bist. Die Ungewißheit nicht mehr ertragend. Der Gewißheit deiner Ermordung in ihr starres Auge gesehen. Nach zwei quälenden Jahren. Die Hoffnung die bei jedem Läuten des Telefons bei jedem Klopfen an der Tür aufblitzte und sekundenschnell erlosch. Dieser unschreibare Schmerz. An jenem Tag an dem ich von deiner Tötung erfuhr lief ich durch Coyocan. Wo wir gewohnt hatten. Ich verfluchte Me70 xiko. Haßte es. Lief zu der Straßenkreuzung nahe des Viveros de Coyocan. Der asthmatischen grünen Lunge der Stadt. Dort wo sich die Calle Viena mit der Calle Mexico kreuzt. Der Eukalyptusbaum stand noch immer. Er war kahl geworden. Schien krank. Ich suchte nach dem Herz. Das du eingeritzt hast. V+E. Du hast mit einer Ernsthaftigkeit die ich vorher nachher nicht mehr in deinem Gesicht erblickte zu mir gesagt: Du bist meine letzte Liebe. Ich habe damals diese Worte nicht für wahr gehalten. Wie hätte ich wissen können. Ich habe dein Herz wiedergefunden. Der Boden schwankte. Ich sah nichts mehr in Tränenblindheit. Hielt mich am Stamm fest. Brach zusammen. In einem würgenden Schluchzen. Und plötzlich waren Menschen da. Die mich fragten. Mir zuhörten. Meinem Gestammel. Eine Frau. Die mich in den Arm nahm. Mich wiegte wie ein Kind. Und ich meinen Schmerz aus mir weinen schreien konnte. Der nicht endete. Die Mexikanerin ließ mich nicht los. Hielt mich. Brachte mich in ein Restaurant. Bestellte Cafe für uns. Ließ mich reden. Sie hatte deine Musik gekannt deine Stimme sehr gemocht. Sie besänftigte meine Wut auf das Land das du über alles geliebt hast. Auch das ist Mexiko. Mitgefühl. Wärme. Jetzt fünf Jahren nach deiner Ermordung wenn ich in den Briefkasten schaue und er ist leer: diese Leere dieser leere Raum in mir und wieder immer wieder dieses plötzliche Weinen das nicht aufhört scharfes Schwert das mich durchfährt. Du sage ich. Die Worte versickern in einer blanken Abwesenheit. Kein Lied tönt mir entgegen. Es bleibt stumm um mich und in mir. Ich suche dich noch immer. Mit meinen Augen. In Wien. Mein geschärfter Blick stößt ständig auf Leerstellen. Orte an denen Menschen waren. Die ins Ausland verschwunden wurden. Kaum merkbar. Es wurde ihnen hier kein Raum gestattet. Ihr Fehlen fällt nicht auf. Die nie eine Stimme hatten. Und kein Geld daß jemand für sie sprach. In einer dem Rechtssystem verständlichen Sprache. Und die Stimmen werden leiser. Brüchiger. Und die die ihre innere Stimme noch wahrnehmen die noch schreien die sich die Seele aus dem Leib schreien angesichts der Massaker abgewürgt werden. Ausgehungert. Bis ihre Stimmen dünn geworden sind. Und nicht mehr hineinreichen in die Mitte der Gesellschaft vom Rand. Ausstellung Edith Kramers Bis zum 31.1. 2003 ist die Ausstellung „Bilder aus New York und Grundlsee“ zu den Öffnungszeiten der Grazer Synagoge (Mo-Fr. 10-14 Uhr und während Veranstaltungen) zu sehen. Bei der Eröffnung sprachen Charlotte Zwiauer und die Künstlerin über Theorie und Praxis der Kunsttherapie. Kramer, geboren 1916 in Wien, Nichte Theodor Kramers, lernte bei Fritz Wotruba und Friedl Dicker. Sie emigrierte über Prag nach New York, wo sie wesentlich dazu beitrug, die Kunsttherapie als eigenständige Behandlungsform (vor allem in der Arbeit mit autistischen Kindern) zu etablieren.