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Sie war 82 Jahre alt, als sie vom süditalienischen Taranto nach Genua übersiedelt ist. Taranto sei einfach langweilig geworden, begründete sie ihren Umzug. Außerdem sei ihr dort mehrmals am Markt die Tasche geraubt worden, und schließlich ist es von Genua aus näher nach Wien. Nach zwei Hüftoperationen hatte sie langsam wieder gehen gelernt, in Genua bezog sie eine Wohnung im zweiten Stock, ohne Lift. Wenn ich das nicht mehr kann, dann kann ich es ja gleich lassen. Denn schließlich: Ich habe mich nie zur Ruhe gesetzt. Denn wenn man sich zurückzieht, dann ist es aus. Die Stationen ihres Lebens waren Graz, Prag, Berlin, Aachen, Brünn, Frankfurt, Hamburg, Wien, Rom, Taranto und Genua. Ihre Mobilität hatte sie vom Vater geerbt, der als Montaningenieur durch alle wichtigen Orte der Eisenindustrie der Habsburger-Monarchie gezogen war und dann später Professuren in Prag und Brünn inne hatte. Das war für uns ganz normal, dass wir die Wohnorte wechseln. Immer wieder hat sie etwas Neucs angefangen, ist an einen anderen Ort gezogen und hat sich ein neues soziales Umfeld aufgebaut. Mit ihrem Tatendrang, ihren kurzen Haaren und ihrer Verachtung für alles Modische war sie der Prototyp der in den 1920er und 1930er Jahren groß gewordenen engagierten Frau. Sie war ausgebildete Gärtnerin, studierte Chemikerin, überzeugte Kommunistin, aktive Friedensaktivistin und engagierte Feministin, sie beschäftigte sich mit Kunsttheorie genauso wie mit Gesundheitspolitik. In Hamburg machte sie den Segelschein und rettete mehrere Menschen aus dem Feuersturm nach der Bombardierung der Stadt, indem sie sie mit dem Boot über die Elbe brachte. In den 1950er Jahren arbeitete sie in Rom als Chemikerin mit dem späteren Medizin-Nobelpreisträger Daniele Bovet zusammen. Ich war immer in Bewegung, es hat mir immer Spaß gemacht. Ich glaube, das erhält einen lebendig. Eng befreundet war sie mit der Malerin Friedl Dicker. Diese Freundschaft hatte nur wenige Jahre Zeit — 1936 hatten sie einander kennen gelernt, Ende 1942 wurde Friedl deportiert - , doch sie war für ihr weiteres Leben prägend. Das war eine Bindung, die nie mehr aufgehört hat. Begegnet war sie Friedl Dicker in Prag, im Kreis der politischen Emigranten um die Buchhandlung „Schwarze Rose“. Die Buchhandlung von der Lizi Deutsch, das war unser Stützpunkt, dort sind wir gesessen und haben nichts gekauft. Friedl hatte 1934 Wien aus politischen Gründen verlassen, Hilde war aus denselben Gründen in der Zeit des Ständestaats von der Wiener Uni relegiert worden und studierte in Prag weiter. Nach dem deutschen Einmarsch übersiedelte Friedl Dicker nach Hronov bei Königgrätz. Zwischen den beiden Freundinnen entstand damals ein lebhafter Briefwechsel, in dem sie nicht nur ihren Alltag besprachen, sondern auch über Kafka und Brecht, Dali und Klee, Kierkegaard und Adorno diskutierten. Friedls Briefe waren ganze kunsthistorische Vorlesungen, geschrieben fiir Ignoranten wie mich, sagte Hilde. „Ich wollte, ich könnte Dir ein Denkmal setzten“, heißt es in einem Brief Friedls, „siehe, ein Mensch, der lebt!“ Hilde schickte Bücher und Medikamente nach Hronov und fuhr von Hamburg aus immer wieder selbst hin, das letzte Mal im Dezember 1942, als sie von Friedls bevorstehender Deportation erfahren hatte. Eine Woche waren sie noch zusammen, dann wurde Friedl nach Theresienstadt und später nach Auschwitz abtransportiert. In der Früh um 4 Uhr haben sie weg müssen, da lag sie dann auf der Couch und hat geweint. Zwei Postkarten hat sie noch erhalten, dann nichts mehr. Sie ist nicht zurückgekommen, ich habe lange gewartet, und sie ist nicht gekommen. Danach kümmerte sich Hilde ihr ganzes weiteres Leben um das Vermächtnis der Freundin. Sie bewahrte mehrere ihrer Bilder und die Briefe auf, sie organisierte Ausstellungen und war bei der Wiederentdeckung Friedl Dickers ab den 1980er Jahren eine der wichtigen Zeitzeugen. Nach Kriegsende musste Hilde als Deutschsprechende die Tschechoslowakei verlassen, als österreichische Staatsbürgerin blieb ihr die organisierte Vertreibung erspart. In Wien arbeitete sie in der Loba-Chemie, engagierte sich in der KPÖ und in der Friedensbewegung. Dem herrschenden Stalin-Kult konnte sie nur wenig abgewinnen, und als ihr die Partei auch die Besuche bei ihren Freunden in Hamburg verbieten wollte („Westkontakte“), traf es sich gut, dass sie bei einer internationalen Friedenskonferenz den italienischen Kinderarzt und KPI-Abgeordneten Ludovico Angelini kennen lernte. 1955 ist sie nach Italien gezogen und hat das Österreich der 50er Jahre 11