krüglein geworden ist. Stille Nacht, laß mich in meine enge, in¬
nere Zelle zurückfinden, in der nur die paar Geister meiner
Lieben Zutritt haben oder Worte edler Menschen, wie sie aus
Büchern in mir aufbewahrt sind. In Menton habe ich es oft ge¬
habt. In dieser Zelle werde ich so voll Widerstand gegen die
Umwelt. Ich muß versuchen ja zu sagen und mich vom
Seelenhaften des Alleinseins nicht entfernen lassen.
Jetzt bin ich wieder in meinem Winkel. Bl.s Strohsack liegt
parallel zu meinem mit nicht zwei Zentimeter Abstand. Ja, das
ist es, so abstandslos ist alles hier. Einsam und kalt ist es in die¬
ser Welt voll von deutschen Mächten und Gefangenen. Mir
fällt aus der Kindheit ein: „Wohin soll ich mich wenden...“,
mit der Schubertmelodie. Ich höre sie von Knabenstimmen ge¬
sungen, unter denen auch meine gewesen war, diese Stimme,
die jetzt farblose Worte auf Französisch den ganzen Tag sagen
muß. Ach, dieses Ich, überlebend aus all dem Schönen, das all¬
mählich sinnlos wird in der Welt, nur noch sich selber ver¬
ständlich. [...]
Freitag, 21. Januar 44
Ich fühle mich wie nach einer langen, vielaktigen, erschüttern¬
den Theatervorstellung, denn als eine solche hat diese Nacht
sich für mich erwiesen. Jeder Akt hatte einen anderen Schau¬
platz, der lebende Held war immer ich, zusammen mit Frauen,
die es dabei auch nicht besser hatten. Dieses traurige, bunte
Stück danke ich einem besonders sadistischen Soldaten. Dieser
hat nämlich während der ganzen Nacht in Abständen von 30
Minuten das Licht angedreht und es so lange brennen lassen,
bis sich auch der Judas überzeugt hatte, daß auch nicht einer
der Zellenbewohner mehr schliefe, sondern sich aufrichtete,
nach der Uhr sah oder nach der Zeit fragte, worauf der Soldat
dann gegen die Tür schlug und „Schlafen“ brüllte. Das davon
nicht mehr die Rede sein könne, mußte sogar ihm klar sein.
Mir riß mit jedem der Beleuchtungsspiele ein Akt meines
Lebensstückes ab. Ich hatte mit dem Leutnant Rheinhardt in
Wien begonnen. Begegnung mit der reizenden G.L.*, und dann
jedes Detail des Sterbens ihrer Schwester L.’, der lieben, sanf¬
ten. Der Tod des Vaters mischt sich herein. „Ruht in Frieden
alle Seele...“ Dann der Abschiedsabend in Wien mit meinen
Jugendfreunden, mit Hofmannsthal, Wassermann, Arthur
Schnitzler... Dann München, der Anfang einer bürgerlichen
Existenz. Dann alles, was jetzt noch weiter spielt mit den
Schauplätzen Lavandou, Menton, Nice, mit dem schicksals¬
vollen Zwischenspiele Marseille September 1940, und nachts
am Hafen Werfel, der mir sagt: „Bleiben Sie nicht hier, Sie
werden hier zugrunde gehen.“ [...]
Mittwoch, 26. Januar 44
Ich bin später als die anderen doch noch nach Villa Hermitage
gebracht worden. Bin den ganzen Tag herumgestanden und
habe schließlich ein Paket Zigaretten von einem Soldaten ge¬
kauft. Welches Mißverhältnis zwischen der Depression mit den
Zigaretten zu Ende zu sein und mit der Befriedigung, wieder
etwas zu rauchen zu haben!
Jetzt nach einer bösen Nacht fühle ich mich wie zerschlagen
vor der übelsten Aussicht meines Lebens. Ich kam erst um drei
Uhr zum Verhör. Eine Stunde Gespräch mit dem Kommissar
Scholler oder Schöller, ein Bayer. Das Ergebnis, nach einigen
Worten über meine literarische Tätigkeit, ließ an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrig. Die Aussagen über mein
„Vergehen“ wurden gar nicht diskutiert. Es handelte sich um
meine Person (Recherchen über mein Vorleben sind überhaupt
noch nicht angestellt worden!). Ich müsse Klarheit über mei¬
ne Nationalität schaffen. Man müsse feststellen, ob ich
„Deutscher“ sei. Ob vom Reiche nicht etwas gegen mich vor¬
liege. Kurzum, man müsse mich nach Deutschland bringen,
vorerst zum Zwecke von Feststellungen nach Marseille ins
Gefängnis, das angeblich besser sein soll als dieses hier. Soviel
besser, daß ich nichts als Zweifel habe. — Also Marseille!
Jetzt habe ich noch die Hoffnung, daß es dort recht lange
dauern werde, ehe die Entscheidung fällt. Denn so lange ich
noch in Frankreich bin, kann noch ein Wunder geschehen, und
vieles kann Rettung bringen. Wenn aber... [...]
Wie wunderlich ist es, daß das Herz sich über das große
Unrecht, das einem in dieser Zeit geschieht, so viel eher hin¬
wegsetzen kann, als über das erbärmliche Alltagsunrecht. Daß
ich, nach dem was das Gestern mir gebracht hat, so tief ver¬
bittert in mich hineinbrüten muß.
Der ganze Morgen ist nur mit Anschreien durch die Wach¬
habenden vergangen. Ich bat die Gestapo, einen Brief an Erica
abschicken zu dürfen, die seit einem Monat ohne Nachricht
von mir ist. Arme Erica, sie wird auch Geduld lernen müssen
wie der alte Rheinhardt. Gott gebe ihr Mut und Kraft und
Gesundheit. Die Erlaubnis wurde mir nicht erteilt.
Morgen gehen die neun Monate meiner Gefangenschaft zu
Ende. Und heute habe ich das traurige Gefühl, daß diese trotz
der Villa Lynnwood am Ende noch der bessere Teil der Haft gewe¬
sen sein könnten. Was wird jetzt kommen und wie lange wird
es noch dauern? Gegen alle anderen bin ich voll eitlem Optimis¬
mus, spreche vom Osten als vom großen Umschwung - aber im
Inneren ist ein trauriges, vernünftiges Besserwissen. Die Alliier¬
ten haben keine Eile. Aber das dembarquement [die Landung]
bei Rom scheint doch wahr zu sein!" Magari! [Gebe Gott!]
Ich bin des Treibens so müde, und gerade jetzt darf ich nicht
müde werden. Im Gegenteil. Der Gedanke an Selbstmord ist
mir nie ernsthaft gekommen. Das Gottvertrauen hat mir immer
Kraft gegeben. Aus den Tagen in Hy£res habe ich sorgfältig
eine dort gefundene Rasierklinge versteckt gehalten, mit dem
Gedanken, daß sie mich vor Unerträglichem bewahren könne.
Aber ernsthaft habe ich nie daran gedacht.
Die lange Nacht kommt näher. Ich habe das Gefühl, daß ich
völlig aus meinem bisherigen Leben weggegangen bin, daß
nicht abzusehen ist, wie ich dahin zurückkehren soll.
1 Französisches Internierungslager, in dem E.A. Rheinhardt 1940 fest¬
gehalten wurde.
2 Postkarten, die mit dem Wahlspruch der italienischen Faschisten —
„ Vinceremo [Wir werden siegen]“ — versehen waren.
3 Drancy war das nordöstlich von Paris gelegene Durchgangs- und
Sammellager für Juden. Von dort wurden sie in die Vernichtungslager,
vor allem nach Auschwitz-Birkenau deportiert (vom 22.7. 1943 bis 17.8.
1944 64 Transporte mit ungeführ 60.000 Juden nach Auschwitz¬
Birkenau, drei Transporte mit ungefähr 3.700 Juden nach Sobibör).
4 Am 11.11. 1942 und den darauf folgenden Tagen besetzten deutsche
und italienische Truppen Vichy-Frankreich. Bei der darauf folgenden
Aufteilung fiel Le Lavandou in den italienisch besetzten Teil.
5 Oberst Francois de la Rocque (1885-1946) gründete 1927 die
rechtsextremen Feuerkreuzler-Bewegung (Croix-de-Feu) und nach
1936 die Parti Social Francais (P.S.F.).
6 Ersteres traf zu, zweiteres nicht.
7 Hier dürfte wieder die Schlacht um Monte Cassino gemeint sein.
8 Das ist Rheinhardts zweite Ehefrau Felice (Gerty) von Landesberger.
9 Sie starb 1920, kurz nach ihrer Hochzeit, an Encephalitis. Vgl. dazu
auch Wolmut, Biographie, S.6, DOW 11.601a
10 Hier diirfte erneut die Schlacht um Monte Cassino gemeint sein.