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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT 2:10 „Und nie, nicht für eine Minute, denke ich, daß mir das alles passiert wäre, wenn es die Nazis nicht gegeben hätte. Ich bin nicht froh, daß es die Nazis gegeben hat, aber wenn es in meinem Fall eine andere Seite der Nazi-Medaille gibt, dann ist es die, hierhergekommen zu sein, diese Freiheit bekommen zu haben, diesen Impuls zur Kreativität, den Freibrief, Dinge auszuprobieren und, wenn nötig, auch mal scheitern zu dürfen. Ich hätte das alles niemals in Deutschland gehabt, ganz sicher nicht. Ich kann mir das nicht vorstellen.“ Mit diesem prägnanten Resümee faßt die New Yorkerin Pia Gilbert, Komponistin und Professorin, die Auswirkungen des Exils auf ihr Leben zusammen: Zwei Seiten einer Medaille. Die Kippenheimerin Pia Gilbert wurde in eine gutbürgerliche, jüdisch-religiöse Familie hineingeboren. Da sie nach Musik schon als kleines Kind „süchtig‘” war, hält sie es für wahrscheinlich, daß sie wohl Musik studiert hätte, dann aber vermutlich Pianistin bzw. Klavierlehrerin, sicherlich jedenfalls keine Komponistin für Modernen Tanz geworden wäre. Selten nur werden die Auswirkungen des Exils auf das eigene Leben so explizit formuliert. Das Exil ist immer ein tiefer Einschnitt in das Leben gewesen, der höchst individuell erlebt wurde. Wie glücklich und erfolgreich die Exilierten an ihr bisheriges Leben anknüpfen konnten, ob und wie sie neue Wege einschlagen konnten, hing von sehr unterschiedlichen Bedingungen, Zufällen und Möglichkeiten ab, wie das Exiliertsein verkraftet wurde, war physisch und psychisch sehr verschieden. Für die Exilforschung bedeutet dies, die Ambivalenz von Bruch und Kontinuität des Exils stets neu und sensibel auszuloten. Und doch scheint aus der bisherigen Exilforschung hervorzugehen, daß es bei aller Singularität einzelner Schicksale typische Verhaltensweisen und Reaktionen während der Verfolgung und der Flucht gegeben hat, wie sich auch wiederkehrende Muster im Exil selbst herauskristallisieren, die zu vergleichbaren Lebensläufen und Werdegängen geführt haben. Lebensläufe, Werdegänge, die zunehmend in den Blick der Exilforschung geraten. Aus dieser intensivierten Beschäftigung mit den Exilierten ist ein Bedürfnis nach differenzierter Betrachtungsweise erwachsen. Der vormals enge Exilbegriff wurde zu einem umfassenden erweitert: Exil meint nicht mehr nur die gelungene Flucht und den schließlich erreichten Exilort. Exil und damit auch Exilforschung meint heute auch: Unterscheidungen zwischen denen, die ein Exilland erreichten und denen, die deportiert wurden, zwischen älterer und jüngerer Generation, zwischen Exilerfahrungen von Kindern und denen von Erwachsenen. Und er unterscheidet heute sensibel antisemitische, religiöse, politische, rassistische Verfolgungsgründe, betrachtet Dauer und Weg der Flucht selbst, die unterschiedlichen Länder, die zum Exilort wurden. Auch wird nach Herkunft, sozialem Milieu, nach der Berufsausbildung gefragt. „Alles ist weg! Nichts ist mehr auffindbar. Wie soll ich ohne mein Lebenswerk weiter existieren?“ So fragte die Berliner Komponistin Lena Stein-Schneider verzweifelt, nachdem sie 1945 im hohen Alter von 75 Jahren aus dem KZ Theresienstadt befreit worden war. Der von ihr angestrengte und über acht Jahre gefochtene Kampf um Wiedergutmachung endete mit einem Vergleich über die unglaubliche Summe von 3500,- Mark — das Lebenswerk blieb verloren. Auch diese Seite von Deportation und Exil wird zunehmend beleuchtet. Fragen nach dem Leben „danach“, nach den psychischen, emotionalen, individuellen Auswirkungen auf die Betroffenen und seit einiger Zeit auch auf die der nächsten Generation der second and third generation. Zugleich wurde der Exilbegriff begrenzt, abgegrenzt zum Begriff Emigration. Die Forschung entwirrte damit eine folgenreiche Vermischung, die Bert Brecht bereits 1937 (in der Neuen Weltbiihne) in Worte gefaßt hatte: „Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: / Emigranten / Das heißt doch Auswanderer. (...) wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.“ Die Kategorie Geschlecht und der Exilbegriff Was sie ohne Hitler geworden wäre? Wohl „Frau Sanitätsrat“ vermutete die ebenfalls exilierte Hilde Marx. Wohl „Lehrerin“, meint Pia Gilbert. Dichterin ist die eine geworden. Die andere wurde Komponistin und Mitinitiatorin für die Spezialdisziplin „Komposition für modernen Tanz“. Und das ist das Gemeinsame der so unterschiedlichen und zugleich bemerkenswerten Lebenswege vieler exilierter Frauen, insbesondere denjenigen, die der jüngeren Generation zuzurechnen sind: Ihnen wurden Karrieren möglich, ihnen gelangen Erfolge, die guten Gewissens als frauenuntypisch, bemerkenswert und historisch ungewöhnlich zu bezeichnen sind. Um so erstaunlicher ist es, daß in der Exilforschung generell ein Aspekt nahezu vollständig mißachtet wird: die Kategorie „Geschlecht“. Das Exil führte nur selten zu einer bewußteren Wahrnehmung der Rollen, zu einer bewußteren Kritik am bestehenden Rollenverständnis. Allerdings bedeutete das Exil auch für diejenigen Frauen, die bis dahin noch stark der traditionellen Rollenzuweisung verhaftet waren, zwar keine Aufhebung, aber eine Verschiebung des Rollenverständnisses. Einem feministischen Denken leistete das Exil keinen Vorschub. „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es ungewöhnlich war, als Frau Komposition zu studieren. Vielleicht wird den Frauen ein kreatives Potential in der Musik eher abgesprochen als in der Malerei oder Literatur. Denn die Leute sind sehr mißtrauisch gegenüber Frauen als Musikerinnen. Aber ich mag diese Division zwischen Männern und Frauen nicht, das ist besonders in Deutschland so.“* Diese Aussage der im chilenischen Exil lebenden Leni Alexander kann ebenfalls als typisch angesehen werden. Wie viele Frauen ist sie sich den unterschiedlichen Möglichkeiten von Frauen und Männern bewusst, doch wird der Bezug zur ei31