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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

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„Und nie, nicht für eine Minute, denke ich, daß mir das alles
passiert wäre, wenn es die Nazis nicht gegeben hätte. Ich bin
nicht froh, daß es die Nazis gegeben hat, aber wenn es in mei¬
nem Fall eine andere Seite der Nazi-Medaille gibt, dann ist es
die, hierhergekommen zu sein, diese Freiheit bekommen zu
haben, diesen Impuls zur Kreativität, den Freibrief, Dinge aus¬
zuprobieren und, wenn nötig, auch mal scheitern zu dürfen. Ich
hätte das alles niemals in Deutschland gehabt, ganz sicher
nicht. Ich kann mir das nicht vorstellen.“

Mit diesem prägnanten Resümee faßt die New Yorkerin Pia
Gilbert, Komponistin und Professorin, die Auswirkungen des
Exils auf ihr Leben zusammen: Zwei Seiten einer Medaille.
Die Kippenheimerin Pia Gilbert wurde in eine gutbürgerliche,
jüdisch-religiöse Familie hineingeboren. Da sie nach Musik
schon als kleines Kind „süchtig‘” war, hält sie es für wahr¬
scheinlich, daß sie wohl Musik studiert hätte, dann aber ver¬
mutlich Pianistin bzw. Klavierlehrerin, sicherlich jedenfalls
keine Komponistin für Modernen Tanz geworden wäre.

Selten nur werden die Auswirkungen des Exils auf das ei¬
gene Leben so explizit formuliert. Das Exil ist immer ein tie¬
fer Einschnitt in das Leben gewesen, der höchst individuell
erlebt wurde. Wie glücklich und erfolgreich die Exilierten an
ihr bisheriges Leben anknüpfen konnten, ob und wie sie neue
Wege einschlagen konnten, hing von sehr unterschiedlichen
Bedingungen, Zufällen und Möglichkeiten ab, wie das
Exiliertsein verkraftet wurde, war physisch und psychisch sehr
verschieden. Für die Exilforschung bedeutet dies, die
Ambivalenz von Bruch und Kontinuität des Exils stets neu und
sensibel auszuloten. Und doch scheint aus der bisherigen
Exilforschung hervorzugehen, daß es bei aller Singularität ein¬
zelner Schicksale typische Verhaltensweisen und Reaktionen
während der Verfolgung und der Flucht gegeben hat, wie sich
auch wiederkehrende Muster im Exil selbst herauskristallisie¬
ren, die zu vergleichbaren Lebensläufen und Werdegängen ge¬
führt haben. Lebensläufe, Werdegänge, die zunehmend in den
Blick der Exilforschung geraten. Aus dieser intensivierten
Beschäftigung mit den Exilierten ist ein Bedürfnis nach diffe¬
renzierter Betrachtungsweise erwachsen. Der vormals enge
Exilbegriff wurde zu einem umfassenden erweitert: Exil meint
nicht mehr nur die gelungene Flucht und den schließlich er¬
reichten Exilort. Exil und damit auch Exilforschung meint heu¬
te auch: Unterscheidungen zwischen denen, die ein Exilland
erreichten und denen, die deportiert wurden, zwischen älterer
und jüngerer Generation, zwischen Exilerfahrungen von
Kindern und denen von Erwachsenen. Und er unterscheidet
heute sensibel antisemitische, religiöse, politische, rassistische
Verfolgungsgründe, betrachtet Dauer und Weg der Flucht
selbst, die unterschiedlichen Länder, die zum Exilort wurden.
Auch wird nach Herkunft, sozialem Milieu, nach der
Berufsausbildung gefragt.

„Alles ist weg! Nichts ist mehr auffindbar. Wie soll ich ohne
mein Lebenswerk weiter existieren?“

So fragte die Berliner Komponistin Lena Stein-Schneider ver¬
zweifelt, nachdem sie 1945 im hohen Alter von 75 Jahren aus
dem KZ Theresienstadt befreit worden war. Der von ihr ange¬
strengte und über acht Jahre gefochtene Kampf um Wie¬
dergutmachung endete mit einem Vergleich über die
unglaubliche Summe von 3500,- Mark — das Lebenswerk blieb
verloren. Auch diese Seite von Deportation und Exil wird zu¬
nehmend beleuchtet. Fragen nach dem Leben „danach“, nach
den psychischen, emotionalen, individuellen Auswirkungen
auf die Betroffenen und seit einiger Zeit auch auf die der näch¬
sten Generation der second and third generation.

Zugleich wurde der Exilbegriff begrenzt, abgegrenzt zum
Begriff Emigration. Die Forschung entwirrte damit eine fol¬
genreiche Vermischung, die Bert Brecht bereits 1937 (in der
Neuen Weltbiihne) in Worte gefaßt hatte:

„Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: /
Emigranten / Das heißt doch Auswanderer. (...) wir flohen.
Vertriebene sind wir, Verbannte.“

Die Kategorie Geschlecht und der Exilbegriff

Was sie ohne Hitler geworden wäre? Wohl „Frau Sanitätsrat“
vermutete die ebenfalls exilierte Hilde Marx. Wohl „Lehrerin“,
meint Pia Gilbert. Dichterin ist die eine geworden. Die andere
wurde Komponistin und Mitinitiatorin für die Spezialdisziplin
„Komposition für modernen Tanz“. Und das ist das Ge¬
meinsame der so unterschiedlichen und zugleich bemerkens¬
werten Lebenswege vieler exilierter Frauen, insbesondere
denjenigen, die der jüngeren Generation zuzurechnen sind:
Ihnen wurden Karrieren möglich, ihnen gelangen Erfolge, die
guten Gewissens als frauenuntypisch, bemerkenswert und hi¬
storisch ungewöhnlich zu bezeichnen sind. Um so erstaunli¬
cher ist es, daß in der Exilforschung generell ein Aspekt nahezu
vollständig mißachtet wird: die Kategorie „Geschlecht“.

Das Exil führte nur selten zu einer bewußteren Wahr¬
nehmung der Rollen, zu einer bewußteren Kritik am beste¬
henden Rollenverständnis. Allerdings bedeutete das Exil auch
für diejenigen Frauen, die bis dahin noch stark der traditionel¬
len Rollenzuweisung verhaftet waren, zwar keine Aufhebung,
aber eine Verschiebung des Rollenverständnisses. Einem
feministischen Denken leistete das Exil keinen Vorschub.

„Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es ungewöhnlich
war, als Frau Komposition zu studieren. Vielleicht wird den
Frauen ein kreatives Potential in der Musik eher abgesprochen
als in der Malerei oder Literatur. Denn die Leute sind sehr
mißtrauisch gegenüber Frauen als Musikerinnen. Aber ich mag
diese Division zwischen Männern und Frauen nicht, das ist be¬
sonders in Deutschland so.“*

Diese Aussage der im chilenischen Exil lebenden Leni
Alexander kann ebenfalls als typisch angesehen werden. Wie
viele Frauen ist sie sich den unterschiedlichen Möglichkeiten
von Frauen und Männern bewusst, doch wird der Bezug zur ei¬

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