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ORPHEUS ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT TRUST genen Karriere eher widerstrebend hergestellt. Im Exil boten sich für Frauen Möglichkeiten, die die klassenspezifischen wie die frauenspezifischen Grenzen überschritten und die ihnen nach tradiertem Geschlechterverständnis nicht offen gestanden hatten. Da aber frauenspezifische Exilforschung und damit die vorläufigen Ergebnisse geschlechtsbezogener Exilforschung sich überwiegend auf Frauen, denen die USA zum Exilort wurden, beziehen, sollten die tatsächlichen Karrieremöglichkeiten von Frauen noch vorsichtig bewertet werden. Die den Blick verengende Konzentration auf das amerikanische Exil ergibt sich zum einen aus der großen Zahl, die dorthin ins Exil gehen konnte, zum zweiten aus den dort entwickelten Forschungsmöglichkeiten. In der Musikforschung ist der aus dem anglophonen Raum stammende Forschungsansatz Gender durchaus angekommen. In der Exilmusikforschung wird die Kategorie Geschlecht noch meist als Subkategorie verstanden und nicht als eigenständiges historisches Merkmal. Angesichts der auch hier aufscheinenden Gemeinsamkeiten, die sich aus den bisher .betrachteten Lebensberichten und Werdegängen von exilierten Frauen extrahieren lassen, scheint es dringend geboten, Genderforschung mit der Exilmusikforschung zu verschränken. So scheinen Frauen früher und deutlicher die drohende Gefahr durch die Naziherrschaft realisiert zu haben. Da Frauen beruflich oft weniger gebunden, weniger ins öffentliche Leben eingebunden waren und somit weniger an Statusfragen bzw. weniger gesellschaftlich als familiär orientiert waren, fielen ihnen die Vorstellung, sich aus dem gewohnten gesellschaftlichen Kontext loszulösen, leichter. Sie waren folglich diejenigen, die drängten, ins Exil zu gehen. Viele Männer konnten sich nur schwer von den erarbeiteten Errungenschaft im Berufs- und Gesellschaftsleben, von öffentlicher und gesellschaftlicher Verantwortung losreißen. So waren es überwiegend die Frauen, die die Flucht auch planten, organisierten, anführten. Im Exilort angekommen, arrangierten sie sich mit dem Exil und im Exil — besser, schneller, flexibler. Mit Mut und Durchsetzungsvermögen und einem großen Realitätssinn begegneten sie den neuen Gegebenheiten. Sie griffen auf die Kenntnisse aus ihrer in der Regel bürgerlichen bis großbürgerlichen Erziehung, auf ihre Ausbildung zur „höheren Tochter“ zurück und nutzten z.B. die erlernten Sprachfähigkeiten. Sie ergriffen ebenso bereitwillig Möglichkeiten, die neue Sprache zu lernen und so Geld zu verdienen. Viele Frauen stellten eigene Berufserfahrungen und -wünsche zugunsten von Weiterqualifizierungen bzw. Zusatzprüfungen für den beruflichen Wiedereinstieg ihrer Männer zunächst zurück und arbeiteten als Hausmädchen und Sekretärinnen, als Arbeiterinnen und Dolmetscherinnen. Unter der sozialen Zurückstufung, die das Exil fast immer bedeutete, haben sie anscheinend weniger gelitten. Genau diese Flexibilität von Frauen erwies sich oftmals als ein Schlüssel zu neuen Tätigkeiten, zu Arbeitsgebieten, die zu ihrem sozialen Wiederaufstieg wie dem ihrer Familien führten und eine eigene Karriere ermöglichten. Gerade für Frauen, die in den USA Zuflucht fanden, scheint auch das durchlässigere, den Rollenklischees weniger verhaftete System amerikanischer Universitäten Karrieren ermöglicht zu haben, die ihnen in ihren Heimatländern nur schwerlich gelungen wären. Und nicht zuletzt waren es gerade die Frauen, die die bemerkenswerten Leistungen jüdischer Assimilation in Europa in die Exilorte transportierten und übersetzten. Paradoxerweise wird gerade dieser Aspekt, die Tatsache, daß über 80 % aller 32 Exilierten jüdischer Herkunft waren, auch in der Exilforschung nur selten explizit thematisiert. Das spezifische Selbstverständnis, das sich nicht zuletzt in dem innerhalb der jüdischen Tradition stark ausgebildetem Streben nach Bildung manifestierte und ein „jüdisches Bürgertum sui generis‘“ schuf, führte zu einer außergewöhnlich hohen Zahl gut qualifizierter Mädchen und Frauen. So gingen z.B. in Berlin ca. 60 % aller jüdischen Mädchen auf eine höhere Töchterschule, während der Anteil nichtjüdischer Mädchen nur ca. 10% betrug. Späteres Studium war nahezu selbstverständlich. Intensive Fremdsprachenausbildungen, Kenntnisse in den Künsten, insbesondere in der Musik erwiesen sich im Exil als von großem Vorteil. Hilde Spiel, die ebenfalls exilierte österreichische Schriftstellerin, thematisierte bereits in den 70er Jahren einen weiteren Aspekt. Sie nannte das Exil eine Krankheit und kam zu dem Schluß: „Die Krankheit Exil - sie ist vererbbar.‘* Ihr in die Debatte geworfenes Anliegen, eine Exilgeschichte auch im familiären Kontext zu betrachten, wurde erst viel später aufgegriffen. Daß auch die nachfolgenden Generationen vom Exiliertsein betroffen, es erlebten und erlitten und daß es massive Konsequenzen für sie und ihr Werden hatte, wurde recht spät klar. Die sogenannte second generation, und teils auch noch die third generation entwickelten spezifische Verhaltensweisen. Ob sie das Tabu zu durchbrechen suchten, mit dem die Eltern die Vergangenheit belegt hatten oder das von den Eltern Erzählte zu verarbeiten suchten, ob Schweigen oder Reden — Muster lassen sich auch hier aufzeigen. Und sie überlappen mit den Denk- und Verhaltensmuster, die das Exil den Verfolgten aufdrückte. Dieses sehr unique Erbe erweckte bei vielen der zweiten Generation das Bedürfnis, die sehr persönlichen Erfahrungen der Eltern auf einer abstrakteren, einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Ebene zu verarbeiten. So faßt die Tochter einer Exilierten ihr jüdisches Erbe, den Transformationsprozeß, den die jüdische Tradition von einer zur nächsten Generation durchlief, in dem Satz zusammen: » The jewish tradition was transformed into Bildung.“” Musikerinnen und das Exil Von Musik war in diesen ersten Betrachtungen noch keine Rede, eher von Exilierten, die Musikerinnen waren. ,,Die Leute sind sehr mißtrauisch gegenüber Frauen als Musikerinnen“, meint die Komponistin Leni Alexander.‘ Man möchte hinzufügen: „... und sehr ignorant!“ Was für die Exilforschung gilt, trifft für die Exilmusikforschung um so mehr zu. Während z.B. in der exilspezifischen Literaturwissenschaft die feministische Forschung signifikante Paradigmenwechsel gezeitigt hat, steht die Disziplin Musikwissenschaft noch am Anfang. Die Exilforschung hat zwar seit den 80er Jahren Einzug in die Musikwissenschaft gehalten und zahlreiche Einzeldarstellungen und grundlegende Untersuchungen zu einzelnen Musikern und Komponisten, zur Exilmusik in Musikinstitutionen und Exilländern hervorgebracht, doch frauenspezifische Aspekte wurden bisher vernachlässigt. Die feministische Exilmusikforschung gar steht ganz an ihren Anfängen. „So war es auch selbstverständlich, daß das Exil, welches ja das tägliche Leben war, fast immer in meine Kompositionen integriert war.‘ „selbstverständlich‘“ nennt Leni Alexander das, was es zu fragen gilt.