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Nun ist es also das zweite Mal, daß wir die Freude haben, den „Iheodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil“ verleihen zu dürfen. Der Vorstand der Theodor Kramer Gesellschaft (TKG) vergibt diesen Preis nicht aufgrund einer Ausschreibung oder von Einreichungen, sondern als einen Würdigungspreis für herausragende literarische Leistungen, die sich, wie wir es im Namen dieses Preises andeuten, aus der lebendigen Erfahrung von Widerstand, von Widerstehen und Widerständigem, aus der Erfahrung von Vertriebensein und Exil schöpfen — aus Bedrangendem und Schmerzlichem also, was sich nicht formalistischer Spielerei bedienen oder modernistischer Erregung von Aufmerksamkeit verschreiben muB, sondern Existentielles und Politisches, Analytisches und Prospektives zu sagen hat und dafiir auch oft und genug von einem selbstgefälligen Literaturbetrieb abgestraft wurde und wird. Es ist auch auch einer der wenigen österreichischen Preise, die international vergeben werden. Zudem meinen wir, daß dieser Preis mit Recht und ehrenvoll den Namen Theodor Kramers trägt, eines Schriftstellers, dessen lyrisches Werk etwas Einzigartiges und bis heute Unerreichtes in der österreichischen Dichtung des 20. Jahrhunderts darstellt — sowohl in seiner sozialen Empathie, seiner sinnlichen Daseinsfreude, seiner detailgenauen Beobachtung für das scheinbar Unbedeutende und Kleine und in seiner existentiellen Dimension angesichts von Ausgrenzung, Vertreibung, Heimatverlust, Fremdsein und Einsamkeit. So ist es denn sicher kein Zufall, daß Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, heute auch einige Uraufführungen von Vertonungen Kramerscher Gedichte hören werden, deren sich verdienstvollerweise UlfDiether Soyka und Karlheinz Schrödl angenommen haben. Denn Kramers Werk ist authentisch, konkret, und es ist aktuell-lebendig wie eh und je — das haben wohl auch die beiden Komponisten gespiirt. Dies trifft etwa auf die von Ulf-Diether Soyka ausgewählten Gedichte Kramers zu, die der Komponist unter dem Titel „Vertriebene Lieder‘ zusammenfaßte und in denen er u. a. auch eines von Kramers wohl berühmtesten Gedichten, sein „Wer läutet draußen an der Tür?“ (1. Juni 1938) aufnahm: „Wer läutet draußen an der Tiir?/ Die Fuchsien bliihn so nah./ Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein/ und wein nicht: sie sind da.“ Kramers Gedichte sind lebendig, sagte ich. Dies ist ebenso spürbar an jenen beiden auf den ersten Blick unscheinbaren Gedichten, an „Der Kaktus‘“ (19. Mai 1938) oder an dem wahrscheinlich auf 1944 oder 1945 zu datierenden, im britischen Exil geschriebenen Gedicht „Es geht ganz sacht auf Früh‘ aus dem großartigen Sammelband „Lob der Verzeiflung“ (1972, fertiggestellt 1946), komponiert von Karlheinz Schrödl. Die Lieder werden heute von Elisabeth Linhart (Sopran) und Volker Nemmer (Klavier) vorgetragen. Hier die Skizze eines aus der Gesellschaft Verbannten und Halt Suchenden - „sein [des Kaktus] Grün hält an und ist wie Leder zäh;/ so leben wir, ein jeder still für sich,/ zu zweit dahin, mein grüner Freund und ich.“ (Mai 1938; Band I, S. 349) — , dort das metaphorische Bild eines Tagesbeginns, eines Neubeginns vielleicht — dreimal leiser Fingerzeig des Hoffens: „es geht ganz sacht auf Früh.“ Mehrere Jahre lang hat sich unsere Gesellschaft erfolglos bemüht, diesen ganz besonderen Preis zu initiieren, aber immer wieder gab es hauptsächlich finanzielle Hindernisse und Beschränkungen, bis es uns vor zwei Jahren endlich gelang, unsere Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Dies wäre freilich aus Eigenem einfach nicht zu erreichen gewesen - ein bedenkliches Zeichen in einem unentwegt zu Tode gelobten Kulturland, ging es doch immer „nur“ um die anständige Dotierung eines literarischen Preises, der immerhin den Namen eines der herausragenden Lyriker Österreichs tragen sollte. Aber die Welt ist nicht weiß und sie ist nicht schwarz. Es waren schließlich die finanziellen Unterstützungen des Landes Niederösterreich, das Wohlwollen seines Landeshauptmannes Erwin Pröll, der seit langem erkannt hat, wer Theodor Kramer wirklich ist, es waren die Stadt Wien und der Bezirk WienLeopoldstadt, die Gemeinde Niederhollabrunn, die Heimat Kramers, die diesen Preis letztlich ermöglichten und bei denen wir uns herzlich bedanken wollen! Auch die ESRA und die Grazer Autorenversammlung halfen mit — vielen Dank! Sie erinnern sich sicher: Stella Rotenberg, die seit 60 Jahren in Leeds lebt und arbeitet — die Muttersprache Deutsch nie verlierend oder aufgebend, ja sie beschwörend als letzten Zufluchtsort und letzte Heimat —, war die erste Preisträgerin im Jahre 2001 - über 60 Jahre nach ihrer Vertreibung aus Österreich. Wir können uns noch gut erinnern, wie sich noch vor 10-15 Jahren LektorInnen renommierter Verlage zierten, Stella Rotenbergs kompakte und jeglicher Schnörkel entbehrende Texte als Dichtung gelten zu lassen und sie abwimmelten, jetzt aber in wohlgedrechselten Worten preisen. Was soll man davon halten? Verschwiegen soll nicht werden, daß dieser Preis nichts mit herkömmlichem Preis- und Literaturbetrieblichem zu tun hat und zu tun haben will — also mit Kanonisiertem, herk6mmlich bekannt Gemachtem und traditionell Beliebtem. Denn man wird nicht behaupten können, daß die großen und bewegenden literarischen Werke Stella Rotenbergs, Alfredo Bauers und Fritz Kalmars zum kanonisierten Kernbestand deutschsprachiger Literatur gehören. Kommen denn ihre Werke etwa in den unzähligen, fluchs und medienwirksam von ExpertInnen hinausposaunten Lektürelisten vor? Gehören sie zu jenen Büchern, die man angeblich gelesen haben muß, um etwas zu gelten? Keine Spur davon. Rotenberg, Bauer und Kalmar sind den Kanon-Aposteln einfach nicht eingefallen oder untergekommen — warum eigentlich noch nicht? Seit nunmehr fast 20 Jahren trägt die TKG zur Erforschung, Pflege und Verbreitung von Theodor Kramers Werk und seiner historischen und poetischen Kontexte bei. In den 1990er Jahren hat sich die Perspektive insofern erheblich erweitert, als das gesamte literarische Exil Österreichs in den Blick kommt, do kumentiert nicht nur durch die von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser herausgegebene und immerhin im 18. Jahrgang erscheinende ZW - in den letzten Jahren hat jede der vier Nummern im Jahr eigentlich Buchumfang; seit Jahren arbeiten viele WissenschaftlerInnen und ZeitzeugInnen aus der ganzen Welt daran mit —, sondern auch durch die Verant39