Es ist tragisch, daß sich die österreichische Exilliteratur, die
Autorinnen und Autoren, die aus dem zur Ostmark geworde¬
nen Österreich vertrieben wurden, nach 1945 aus den ver¬
schiedensten Weltteilen auf eine gemeinsame Mitte bezogen,
die jedoch leer blieb: In Österreich wurde das Phänomen einer
weiterhin existierenden, produktiven, einen großen Beitrag lie¬
fernden Exilliteratur jahrzehntelang kaum wahrgenommen.
Und die Schreibenden im Exil, einer gemeinsamen Mitte be¬
raubt, eines Forums, auf dem sie sich gegenseitig wahrnehmen
hätten können, isolierten sich in ihren jeweiligen Zufluchts¬
ländern oder wurden englische, israelische, kanadische
AutorInnen, die nur mehr selten in ihrer Muttersprache schrie¬
ben.
Alfredo Bauer ist, wiewohl erst 1924 in Wien geboren, 1939
als jugendlicher Flüchtling mit den Eltern in Argentinien ein¬
getroffen und erst seit den 1970er Jahren mit einer Reihe von
Romanen und Erzählbänden hervorgetreten, eine Zentralfigur
der österreichischen Exilliteratur. Wo andere resignierten und
sich der Isolation überließen, bemühte er sich um Kenntnis¬
nahme, nicht nur seiner Autorenkollegen in Buenos Aires, son¬
dern in ganz Südamerika und darüber hinaus. Man könnte
sogar sagen: Alfredo Bauers ganzes Tun und Werk ist ein un¬
entwegter Kampf gegen die Zersplitterung, gegen jene subal¬
terne Passivität, die die Dinge einfach auf sich beruhen läßt und
dem unberechenbaren Lauf der Welt überantwortet. Bauer geht
es, im Historischen, im Sozialen, im Erotischen, um ein durch¬
dringendes Bedenken und Wiederherstellen der Zusam¬
menhänge, mit Rainer Maria Rilkes Stundenbuch könnte er
von sich sagen:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Alfredo Bauer jedoch kreist nicht, wie es bei Rilke weiter
heißt, „um Gott, den uralten Turm“, beruft sich nicht auf die
„festen Formen“ des Daseins, deren Auflösung ein anderer
Exilschriftsteller, zugleich bedeutender Naturwissenschaftler,
nämlich Erwin Chargaff, so geistreich beschreibt. Nicht Über¬
liefertes, Überkommenes, Konventionelles garantiert für Bauer
den Zusammenhang der Welt, sondern einzig und allein das
verantwortliche Denken und Tun der Menschen. Dieser An¬
spruch und zugleich Glaube an die Macht und Diesseitigkeit
menschlichen Denkens ist Bauers Humanismus — kein Hu¬
manismus der Beschönigung, des Zurückweichens, der
Selbstgefälligkeit, sondern, wenn man so sagen kann: ein kri¬
tischer Humanismus.
Es versteht sich, daß Bauer eine tiefe Beziehung zu den hu¬
manistischen Traditionen des alten Europa besitzt, nicht nur die
große klassische deutsche und spanische Literatur kennt.
Bauers Interesse und Verehrung für Stefan Zweig entspringt
der Menschen- und Friedensfreundlichkeit, die aus dem Werk
Zweigs zu uns spricht. Doch all die europäisch geschulte
Menschenliebe ist in der Neuen Welt, in Lateinamerika auf
eine harte Probe gestellt. Hier verursachte die Ankunft der
Entdecker, der Einmarsch der weißen Eroberer ein Massen¬
sterben, das in der Geschichte ohnegleichen ist. In kaum 50
Jahren verminderte sich — um ein Beispiel zu nennen — die
Bevölkerung Mexikos von zwanzig auf zwei Millionen, also
auf ein Zehntel. Ähnliches geschah in den Inkastaaten der
Anden, in den Silber- und Goldminen, die die Conquistadoren
nun betrieben, um Europa mit einem Fluß edler Metalle zu
überschwemmen, ein Faktor, der die Entwicklung der bürger¬
lichen Gesellschaft, des Warenaustausches und der Waren¬
produktion außerordentlich beschleunigte und in Europa die
sozialen Grundlagen humanistischer Bildung, klassischer
Kunst schuf.
Der europäische Humanismus, das Haupt in den Sternen,
steht mit den Füßen doch im Blut der aufgeopferten indogenen
Völker, und genau diesen tragischen Widerspruch läßt Bauer in
seinem Stefan Zweig-Roman den geliebten Stefan Zweig, der
heuer vor 60 Jahren in Brasilien aus dem Leben schied, erfah¬
ren und erleben.
Wenn Bauer vom verantwortlichen Tun und Denken der
Menschen ausgeht, dann ist ihm dieses keine abstrakt-morali¬
sche Forderung, die allenfalls zur Verachtung jener ausreicht,
die der Forderung nicht gerecht werden können. Das genuin
Künstlerische, das zur literarischen Gestaltung Treibende, be¬
ginnt hier mit Alfredo Bauers Suche nach der Spur der Freiheit,
nach Möglichkeiten des Widerstandes auch unter den be¬
drückendsten Verhältnissen, auch in dem verwickeltsten Zu¬
sammenhängen. Die Freiheit, die Bauer meint, ist immer eine
konkrete, eine bedingte und beschränkte, eine, die zugleich auf
das, was sie bedingt und beschränkt, einzuwirken versteht.
Wenn die der Hexerei angeklagte India (Indianerin) Luisa
Gonzäles im Jahre 1688 unter Folter zu keinem Geständnis zu
zwingen ist, gilt ihr Bauers ganzer Respekt: „Denn wir alle“,
schreibt er in Hexenprozeß in Tucumän, „stehen in der Schuld
derer, die Verfolgung gelitten oder gegen sie Zeugenschaft ab¬
gelegt haben. Ihr Leiden und ihr Mut tragen trotz allem dazu
bei, daß eines Tages Licht und Recht über die Mächte der Fin¬
sternis triumphieren.“
Die Spur der Freiheit verfolgt Alfredo Bauer in seinen fünf¬
bändigen Romanzyklus Los compafieros antepasados, ge¬
schrieben in spanischer Sprache, nur zwei Bande der
Geschichte einer Wiener jiidischen Familie, die vom Revo¬
lutionsjahr 1848 bis zur Exilzeit nach 1938 geht, sind in deut¬
scher Übersetzung erschienen. Die Geschichte der
Emanzipation ist eine Geschichte großer Mühen, glänzender
Anstrengungen, vorübergehender Triumphe — man denke nur
an die großartige kulturelle Entfaltung der österreichisch-jüdi¬
schen Symbiose von 1867 bis in die 1930er Jahre — und vor al¬
lem eine Geschichte der Niederlagen. Alfredo Bauer ist
jüdischer Herkunft, wurde schon deshalb verfolgt, hat viel dar¬
über nachgedacht, wie verschieden die Verfolgten mit ihrem
Verfolgtsein umgehen. Mir scheint, Alfredo Bauer will sich
vielleicht nicht als Jude definieren lassen — wie auch wir über¬
haupt besser daran täten, andere nicht als Juden zu definieren
oder zu identifizieren: Wenn sich jemand zum Judentum be¬
kennen will und seine eigenen Schlüsse daraus zieht, können
wir das getrost ihm überlassen.