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und Mieterschutz, Arbeitersport und Kultur für
alle. Es beinhaltete die allgemeine Demokratisie¬
rung der Geister, einen Sprung vorwärts auf dem
Gebiet der Menschenwürde, eine Humanisierung
der Schule, eine echte Änderung der sozialen
Stellung der Frau, und so manches mehr. Auch die
Psychoanalyse gehört auf dieses Gebiet, und
überhaupt die weitgehende Überwindung des
Tabus, das auf dem Geschlecht lastete. Die neuen
Wege, die Philosophie, Kunst und Wissenschaft
damals beschritten, haben ebenfalls damit zu tun.

Der Austromarxismus, so sehr er auch als Dok¬
trin beanstandet werden konnte und auch bean¬
standet wurde, hätte doch nationalen Stolzes sein
können. Und - leider! — war er es nicht; oder er
war es nur in sehr unzureichendem Maße.

Wenn sich in der Zeit, die seither vergangen ist,
das österreichische Nationalbewußtsein gefestigt
hat, so kann gesagt werden, daß wir Vertriebenen,
die wir in etlichen Asylländern demokratisch-pa¬
triotische Organisationen aufbauten, unseren Teil
dazu beitrugen.

Der Dichter Theodor Kramer war ohne Zweifel einer der
bedeutendsten Vertreter der geistigen Komplexe „Rotes Wien“
und „Österreichische Nationalliteratur“. Daß es ihm schon vor
seiner Vertreibung aus Österreich so besonders schlecht erging,
hat damit zu tun, daß er — wir wollen die Behauptung nur wa¬
gen! - „rot“ und „Österreichisch“ zugleich war. Mehr als an¬
dere vertriebene Schriftsteller wie Stefan Zweig, Franz Werfel,
Ödön von Horvath oder Josef Roth. Gerade damit konnte man
damals nichts Rechtes anfangen.

Ins Exil getrieben zu werden, ist stets etwas Schreckliches.
Doch darf ich vielleicht ein paar Worte sagen zu der Frage, wie
die verschiedenen Länder mit uns Vertriebenen umgingen. Der
Respekt und die Gastfreundschaft beispielsweise, die man uns
in Argentinien erwies, können nicht genug gerühmt werden.

Theodor Kramer kam bekanntlich — schwierig genug war
es, dies zu ermöglichen! — nach England. Es ist auffallend, wie
anders es denen erging, die in die Vereinigten Staaten emi¬
grierten, und denen, die nach England kamen.

Die Nordamerikaner waren an Einwanderer gewöhnt, nicht
aber an Exilanten. Wer kam, der hatte zu bleiben. Er hatte nicht
nur Amerikaner zu werden, sondern er mußte auch alle
Brücken zu seinem Geburtsland abbrechen. Sogar seine
Muttersprache hatte er schleunigst zu verlernen. Daß er die
nordamerikanische Wesensart respektierte, genügte bei weitem
nicht. Er mußte sie seiner ursprünglichen überlegen halten. Tat
er das nicht, dann war er ganz einfach ein Verräter, ein un¬
dankbarer Eindringling, der die ihm gebotene Gastfreundschaft
mißbrauchte und also in diesem Lande, dem demokratischsten
der Welt, nichts zu suchen hatte. Wehe, wenn man bei einem,
der etwa gar, weil er sich, um gegen Hitler zu kämpfen, zur
Armee gemeldet hatte, in den Besitz der nordamerikanischen
Staatsbürgerschaft gekommen war, auch nur das geringste
Zeichen fortdauernder Anhänglichkeit oder gar der Sehnsucht
nach seinem Geburtsland entdeckte! Die spanische Inquistition
konnte gegenüber einem getauften Juden, der sich noch nicht
aller seiner ererbten Sitten entäußert hatte, kaum strenger und
grausamer vorgehen als hier die „echten Amerikaner‘ einem
solchen „Rückfälligen“ gegenüber.

Interessanterweise hielten in den Vereinigten Staaten fast
alle Einwanderer diese Art, ihnen zu begegnen, für ganz ge¬

Literaturhaus, Krems. Foto: Nina Jakl

rechtfertigt. Einen echten Minderwertigkeitskomplex gegen¬
über dem „amerikanischen Wesen“ hatten sie. Daß sie auf die
Kultur, die sie mitgebracht hatten, stolz gewesen wären: ja wo¬
her denn?! Sehr bereit waren sie, die deutsche Sprache zu ver¬
gessen: die Sprache Hitlers! Daß es auch die Sprache Goethes
und Schillers, Lessings und Heines, Hegels und Marx’, Karl
Kraus’ und Freuds war, was scherte sie das?!

Bei uns in Argentinien war es völlig anders. Keiner ver¬
langte von uns, das mitgebrachte Kulturerbe zu vergessen und
auszutilgen. Die Argentinier erwarteten nur Respekt vor ihrem
Land und vor ihrer Art. Und oft genug wurde ihnen auch der
nicht erwiesen. Viele der Flüchtlinge zeigte den Argentiniern
gegenüber kein Minderwertigkeitsgefühl, sondern Überheb¬
lichkeit.

Aber auch in England war es anders als in den Vereinigten
Staaten. Die Engländer sahen die fortdauernde Sehnsucht der
Österreicher nach ihrem Geburtsland gar nicht ungern. Sie be¬
griffen, daß der Schmerz um die verlorene Heimat ihre
Entschlossenheit im Kampf gegen Hitler nur stärken konnte.
So wurde auch die Entwicklung der Bewegung der Freien
Österreicher in England nicht behindert.

Dennoch aber wurden viele Deutsche und Österreicher, die
eindeutig beweisen konnten, daß sie keine Nazis, sondern viel¬
mehr Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung waren, von
den britischen Behörden mit den Nazis in einen Topf geworfen
und interniert oder erhielten Zwangswohnsitze zugewiesen.
Ein solches Schicksal traf auch Theodor Kramer, der auf die
Isle of Man geschickt wurde. Daß jener Krieg, kein Krieg zwi¬
schen Nationen, sondern zwischen Gesinnungen war, das be¬
griff letzten Endes Hitler noch besser als seine Gegner.

Was Theodor Kramer betrifft, so ist er nicht nur im briti¬
schen Exil von seiten der sozialdemokratischen Führung
Repressalien ausgesetzt gewesen, weil er bei Veranstaltungen
des Free Austrian Movement, also bei andern vertriebenen
Demokraten und Patrioten auftrat, sondern auch nach der
Befreiung war es damit nicht zu Ende. Das befreite Österreich
hätte sich doch eine Ehre daraus machen müssen, trotz der
herrschenden materiellen Schwierigkeiten einen Dichter von
Kramers Format so bald wie möglich in die Heimat zurückzu¬
holen und mit allem erdenklichen Schutz, mit allen Be¬

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