Im Zeichen des
„Maiglöckchen“
Die 13 — fälschlich als Unglückszahl be¬
trachtet, weist in Wirklichkeit bei mir (fast)
immer auf Gutes hin. Beschwingt, zufrieden
kehrte ich vom Austriaplatz mit einem bei ei¬
ner Schwäbin erstandenen Sträußchen frisch
duftender, jedoch leicht betäubender Mai¬
glöckchen heim. Diese kleine Aufmerksam¬
keit fehlte niemals am 13. Mai in Czernowitz,
zu Papa Moritz’ Geburtstag. Doch dann, auf
seinem finsteren, zerstörenden Weg Traditio¬
nen und Menschen niederschmetternd, tobte
der alles vernichtende Zweite Weltkrieg.
Die Natur ist jedoch stark und unbesiegbar. In
Sibirien steht schon viele Jahre das Grabmal
meines Mannes Kurt. Ein schwerer, rötlich¬
brauner, unbehauener, wuchtiger Granit. Und
welch Wunder: Rings um den Rand der
Marmorplatte, die das Grab bedeckt, sprießen
als Frühlingsgruß, jahraus jahrein, im so fer¬
nen Sibirien, duftende Maiglöckchen, die un¬
sere Tochter vor langer Zeit pflanzte.
Den Erzählungen meines Vaters, der einige
Jahre nach den schweren Erlebnissen des
Ersten Weltkrieges in Wien lebte, lauschte ich
immer mit Aufmerksamkeit und steigendem
Interesse. Nun nimmt die in Czernowitz, un¬
serem Kleinwien, von mir ersehnte Traum¬
welt Gestalt an. Ich blattere in Cécile Cordons
Buch Das Riesenrad hat alle entziickt und
denke an Vaters Traum, seine „Mädelchen“,
Mutter und mich, nach Wien zu bringen und
ihnen das Riesenrad im Wiener Prater zu zei¬
gen.
Es dreht sich alles hier im Kreise,
Das Riesenrad, die Ringelspiele.
Die Kinder drehen sich im Spiele,
Und alle Hoffnungen und Ziele
der Menschen - kreisen und verblassen leise...
(Walter Lindenbaum, geboren 1907 in Wien,
gestorben 1945 im KZ Buchenwald)
Das Riesenrad dreht sich langsam, sehr lang¬
sam und das schon mehr als hundert Jahre.
Und jetzt endlich, nach so schweren, qual¬
vollen Jahren, steht das Riesenrad im Wiener
Prater vor mir, die ich hier fremd bin und
doch so bekannt mit der Stadt, die mir Vater
vor Jahren mit seinen liebevoll rührenden
Erzählungen nahe brachte, als wenn ich
selbst durch ihre Straßen gegangen wäre.
Auch der Zufall, daß ich gerade am 13. Mai
2002, an Vaters 100. Geburtstag meine Le¬
sung aus meinem Buch Am östlichen Fenster
im Wiener Antiquariat „Buch und Wein“ be¬
ginnen darf, läßt mein Herz erzittern. Ich wer¬
de von den Schriftstellern Lukas Cejpek und
Margret Kreidl, die die Lesung moderieren,
von Hedwig Brenner, die mit mir liest, und
Richard Jurst, dem Besitzer des Antiquariats,
herzlichst empfangen.
Die vielen Bücher, die auf hohen Regalen im¬
mer tiefer ins Innere des Saales führen, der
sich langsam mit Zuhörern füllende Raum er¬
wecken in mir ein feierliches Gefühl.
Immer wieder werde ich, für mich überra¬
schend, von verschiedenen Leuten angespro¬
chen, mit denen ich schon längere Zeit
korrespondierte, die ich persönlich jedoch
erst heute kennenlerne. Ein kleines duftendes
Sträußchen Maiglöckchen ist wieder beschei¬
den dabei. Allerdings nur ein künstliches
Sträußchen, welches ich in einer Auslage zu¬
fällig erblickte und kaufte. Die Frage der ge¬
schäftigen Verkäuferin „Mit Duft oder ohne?“
rang mir schüchtern lächelnd die Gegenfrage
ab: „Wie?“ Im nächsten Augenblick wurden
die wie echt aussehenden Blümchen von der
resoluten (die Situation erfassenden) Verkäu¬
ferin mit Maiglöckchen-Spray bearbeitet,
dessen Duft sich im keinen Raum angenehm
verbreitete.
Konnte das Vater jemals ahnen? Miterlebt,
mitgeliebt, mitgelitten! Ich erzähle, lese aus
meinen Büchern Geschichten über Czerno¬
witz und Sibirien. Blicke in viele mitfühlen¬
de, mich gut verstehende Augen von
Menschen, die mir noch vor kurzem fremd
waren und plötzlich so nahe sind: Sei es im
Literaturhaus Mattersburg, wo Siglinde
Bolbecher die Lesung von Hedwig Brenner
und mir moderiert, sei es im Jüdischen Mu¬
seum in Wien, wo Evelyn Adunka unsere
Lesung begleitet. Bei den Lesungen im Adal¬
bert Stifter-Haus in Linz und in der Neuen
Synagoge in Graz war dann Konstantin
Kaiser dabei, und im festlich erleuchteten
Wappensaal des Wiener Rathauses verlief der
schöne Leseabend mit großem Erfolg.
Das Interesse, mit dem das Publikum dem ge¬
dankenreichen Vortrag von Konstantin Kaiser
lauschte, wie es mitgerissen war vom Exkurs
in die Geschichte der Bukowina und ihrer
Hauptstadt Czernowitz mit dem von Cécile
Cordon und Helmut Kusdat herausgegebenen
und wunderbar vorgestellten neuen Buch An
der Zeiten Rändern, waren einmalig.
Ich bin dankbar, daß es der Theodor Kramer
Gesellschaft gelang, mich zusammen mit
nach zwei deutschschreibenden Autorinnen
aus Israel - Hedwig Brenner und Sidi Gross
— zu diesen bedeutsamen Lesungen einzula¬
den, und daß sie sich bemühte (was ihr auch
gelang), unseren Aufenthalt in Österreich an¬
genehm, schön und unvergeßlich zu gestalten.
Im Zeichen der „Maiglöckchen“ ging ein
Lebenstraum in Erfüllung.
Drei deutschsprachige Autorinnen, die heute
in Israel leben und alle aus der Bukowina
stammen, Margit Bartfeld-Feller, Hedwig
Brenner und Sidi Gross, waren vom 13.-13.
Mai 2002 auf Einladung der Theodor Kramer
Gesellschaft in Österreich. Möglich wurde
dies durch die Unterstützung von Kultur¬
kontakt Austria, der Kunstsektion des Bundes¬
kanzleramtes, des Geschichtsvereins Clio
und der Mitveranstalter in Graz, Linz,
Mattersburg und Wien.
„Als Kind verfolgt: Anne Frank
und die anderen“
Auf der von der Arbeitsgruppe „Frauen im
Exil“ geplanten interdisziplinären Tagung
„Als Kind verfolgt: Anne Frank und die an¬
deren“, Deutschen Bücherei Leipzig, 7.-9.11.
2003, soll die spezifische Situation von jüdi¬
schen Kindern und von Kindern politisch
Verfolgter im NS-Herrschaftsbereich und im
Exil thematisiert werden. Die bislang eher un¬
berücksichtigt gebliebenen Lebensge¬
schichten von Kindern und Jugendlichen
sollen auf verschiedenen Ebenen und unter
den folgenden Aspekten untersucht werden:
— Die Aufarbeitung des als Kind erlebten
Verfolgungsgeschehens, der Deportation- und
KZ-Erfahrungen, des Überlebens im Versteck
und des Lebens im Exil soll zum einen durch
die Erinnerungen der Betroffenen und zum
anderen interdisziplinär unter der Frage¬
stellung des Endes der Kindheit im Sinne von
Behütetsein geleistet werden.
— Literarische und dokumentarische Zeug¬
nisse von Betroffenen sollen vorgestellt, die
kritische Analyse der Rezeption der po¬
pulären Schriften, insbesondere „Das Tage¬
buch der Anne Frank“, geleistet und die
Problematik der Kommerzialisierung erörtert
werden.
— Es soll den Fragen nachgegangen werden,
ob das Thema „Kindheit“ Ansatzpunkte für
den schulischen Unterricht und für die
Jugendarbeit bietet und was man übermitteln
darf, wie weit man gehen darf und was
während der Übermittlung geschieht. Hier
sollen die Transfermöglichkeiten der wissen¬
schaftlichen Ergebnisse auf Modelle für den
Unterricht über die NS-Zeit überprüft und
konkrete Projekte und Lehrpläne aus
Deutschland und anderen Ländern vorgestellt
werden.
Das langfristige Ziel ist die Entwicklung ei¬
nes didaktisch-methodischen Konzepts zur
Auseinandersetzung mit der NS-Vergan¬
genheit, die eine mündige Erinnerungskultur
evoziert und für die aktuelle Flüchtlingssitua¬
tion sensibilisiert.
Daraus leiten sich für die Tagung drei
Schwerpunkte ab:
1. Verfolgung — Ende der Kindheit?
2. Literarische und dokumentarische Zeug¬
nisse und ihre Rezeption
3. Ethik der Erinnerung: Problem, Erfahrun¬
gen an die nachkommenden Generationen zu
vermitteln.
Vortragsangebote mit einem kurzen Exposé
bitte bis zum 1. Februar 2003 an: PD Dr. Inge
Hansen-Schaberg, Birkenweg 15, D-27356
Rotenburg; E-mail:
hansen.schaberg @t-online.de