Passagen auch jene, in denen nicht die
Autoren zu Wort kommen, sondern die
Interviewten selbst zitiert werden. Der
Hinweis auf die „aufregenden Erlebnisse“
von Flüchtlingen zeugt genauso von einer ge¬
wissen Gedankenlosigkeit der Autoren in
ihrem Umgang mit Sprache wie beispiels¬
weise der Satz: „Enteignungen, Zwangsum¬
siedlungen: ungemiitliche Zeiten, von denen
Nagy [einer der Porträtierten] erzählt.“
Von „ungemütlichen“ Zeiten hatten fast alle
Flüchtlinge ihren Interviewern zu berichten.
Jener Palästinenser zum Beispiel, der in ei¬
nem türkischen Gefängnis drei Monate lang
gefoltert wurde, oder jene Kambodschanerin,
die auf den „Killing Fields“, den Vernich¬
tungslagern der Roten Khmer, ihre gesamte
Familie verlor. Wer seinen Verfolgern entkam
und es — durch eine Verkettung glücklicher,
manchmal grotesk anmutender Zufälle — bis
nach Österreich schaffte, konnte jedoch nur in
den seltensten Fällen mit Sympathie oder
Anteilnahme rechnen. „Es G’sindel hamma
no braucht“, bekam die aus der Tschecho¬
slowakei stammende Herta Hysek schon
1945 in Wien zu hören. Fünfzig Jahre später
wurde einem Flüchtling aus Kamerun ein
Fortbildungskurs des Arbeitsamtes verwei¬
gert, „weil er ja“, wie sich ein Beamter aus¬
drückte, „von den Bäumen komme“.
Angesichts einer solchen Aufnahme sowie
der erlittenen und nur selten zu bewältigen¬
den Tramata von Flucht und Heimatverlust
war für viele der Neubeginn im Asylland
nicht nur mit „Integrationsschwierigkeiten“,
sondern auch mit einem starken sozialen
Abstieg verbunden...
„Die Republik Österreich“, heißt es im
Nachwort, „hatte bei den Verschärfungen für
Flüchtlinge und andere Ausländer Anfang der
neunziger Jahre die Vorreiterin abgegeben.“
Längst vorbei waren die liberalen Jahre der
Kreisky-Ära, als bis zu 80 Prozent der
Asylanträge positiv erledigt wurden (vor ein
paar Jahren waren es nicht einmal mehr acht
Prozent) und sogar österreichische Diplo¬
maten sich als Fluchthelfer betätigten, indem
sie einen in Chile politisch Verfolgten im
Kofferraum eines Wagens in ihre Botschaft
schmuggelten. 1994 mußte der aus Zaire
stammende Regimegegner Mbemba Funsu in
Österreich fünfeinhalb Monate in Schubhaft
verbringen: „Sehr dreckig, viel Ungeziefer,
Mäuse, sieben Leute in einem Raum ... Vor
der Abschiebung nach Zaire rettete ihn der
Europäische Gerichtshof für Menschen¬
rechte.“ Asyl bekam er erst im Sommer 2000.
Da hatte es die Ungarin Agnes Wagenhofer
noch leichter. „Sie suchte um Asyl an, mit
Hilfe eines Rechtsanwalts ... und mit Erfolg.
Der Anwalt ... galt als teuer: ‚Aber von mir
hat er nichts verlangt. Er hat gesagt: Es gibt
eine göttliche Buchhaltung...“ Das war
1967. Ob jedoch die österreichische
Asylpolitik für das Jahr 2001 in der göttlichen
Bilanz auf der Aktivseite verbucht wird, ist
sehr zu bezweifeln.
Vladimir Vertlib
Robert Schlesinger/Melita H. Sunjic: Flucht
nach Österreich. Die zweite Republik in
Flüchtlingsporträts. Mit Beiträgen von
Michael Möseneder und Benedikt Sauer.
Wien: Czernin 2001. 205 S.
Gleich am Anfang dieses hervorragenden
Buches führen zwei nebensächliche Dinge zu
einer leichten Irritation. Zum einen läßt der
Titel des Buches eher auf eine wehmütig¬
nostalgische Abhandlung über de k & k
Idylle schließen. Zum zweiten bestätigt
Michael Ley diese erste Vermutung gleich am
Anfang seines Vorwortes, indem er sich einer
wohl trefflichen, aber leider schon hundert¬
mal in zig Büchern (und zumeist ebenfalls am
Anfang) wiederholten Passage aus Robert
Musils Mann ohne Eigenschaften bedient:
„Dort in Kakanien, diesem seither unterge¬
gangenen, unverstandenen Staat ...“ Viel¬
leicht ist diese Vorgehensweise bei der
Buchgestaltung aber auch Absicht gewesen,
denn jede Art von k & k Nostalgie wird einem
anschließend gründlich ausgetrieben.
Am Beispiel eines der ceinflußreichsten
Antisemiten seiner Zeit — August Rohling
(seit 1876 als Theologe an der deutschen Uni¬
versität in Prag und anerkannter Gerichts¬
gutachter in Fragen des Antisemitismus!) —
und seines schärfsten Widersachers, dem aus
Galizien stammenden Rabbiner Josef Samuel
Bloch, führt uns Ley in die Welt des akade¬
mischen Antisemitismus im Wiener Fin de
siecle ein. Rohling ging es unter anderem dar¬
um, anhand von jüdischen Schriften die
Weltherrschaftsambitionen der „Christenmör¬
der“ zu entlarven und die rituelle Beimen¬
gung von Christenblut in den Mazzesteig zu
belegen. Die Schrift „Der Talmudjude“ (17
Auflagen!) machte Rohling berühmt. Ein¬
flußreiche Persönlichkeiten aus dem christ¬
lich-sozialen bzw. katholisch-konservativen
Lager unterstützten seine Aktivitäten.
Den Wiener Rabbinern (darunter Bloch) fiel
es leicht, die pseudowissenschaftlichen Ver¬
leumdungen des Herrn Rohling Schritt für
Schritt zu widerlegen. Eine breite Öffentlich¬
keit konnten sie aber nicht erreichen, denn die
liberale Presse (z.B. die Neue Freie Presse)
fürchtete, als Judenblatt verschrien zu wer¬
den. Angesichts dieses Dilemmas änderte
Bloch seine Taktik und blies zum Gegenan¬
griff. Es gelang ihm, Rohling beruflich zu
ruinieren. Dem bereits weit verbreiteten
Antisemitismus stand er freilich machtlos ge¬
genüber.
Die präzise von Ley ausgewählten und kom¬
mentierten Originaltextpassagen über den
Streit Blochs gegen Rohling, dem ein
beträchtlicher Teil dieses Buches gewidmet
ist, zeichnen ein allzu deutliches Bild der
christlichen Wurzeln des Antisemitismus und
seiner Verbindungen zum von zumeist op¬
portunistischen Machtpolitikern genährten
Nationalismus. 1890 sagte Karl Lueger im
Reichrat über Juden: „Was sind Wölfe,
Löwen, Panther, Leoparden, Tiger, Menschen
gegenüber diesen Raubtieren in Menschen¬
gestalt?“ 1897 mußte Kaiser Franz Joseph,
gegen seinen Willen, Lueger zum Bürgermei¬
ster von Wien ernennen. Jede Ähnlichkeit mit
Persönlichkeiten und Ereignissen aus dem
heutigen Österreich ist rein zufällig.
Verständlich und zugleich tragisch war es,
daß viele Juden damals ebenfalls Schutz,
Identität und Halt im Nationalismus suchten.
Ley schreibt: „Die assimilierten Juden waren
passionierte Vertreter der deutschen Kultur,
sie identifizierten sich als ‚Deutsche’. Dabei
übersahen sie, daß der aufkeimende Deutsch¬
nationalismus gerade den ‚Juden’ aus der
Konstruktion des ‚Deutschtums’ verbannte.“
Bloch erkannte diese Tragik und schrieb in
seinem Werk „Der Nationale Zwist und die
Juden in Österreich“: „Wenn eine specifische
österreichische Nationalität construiert wer¬
den könnte, so würden die Juden ihren
Grundstock bilden.“ Bloch suchte die Auf¬
lösung des Antisemitismus im Vielvölkerstaat
Österreich. Der aus Budapest stammende und
für die Neue Freie Presse in Wien arbeitende
deutsche Jude Theodor Herzl (Eigendefi¬
nition) suchte die Lösung der Judenfrage in
Palästina. Nach Herzls Vorstellungen hätte
Israel so etwas wie ein österreichisch-ungari¬
scher Vielvölkerstaat im Nahen Osten werden
sollen. Daß sich Herzls Traum, wenn auch in
anderer Form, erst nach dem Wahnsinn der
Massenverblendung und -vernichtung, deren
pseudowissenschaftliche Rechtfertigung man
in den Werken Rohlings finden kann, ver¬
wirklichen ließ, ist die europäische Tragödie
des 20. Jahrhunderts.
Michael Ley bietet keine neuen Entdeckun¬
gen und Erkenntnisse. Alles ist mehr oder we¬
niger bekannt. Sein großes Verdienst liegt
aber in der kompakten und überschaubaren
Darstellung der Wurzeln des Antisemitismus
und Nationalismus in Wien (und damit
Mitteleuropas) und seiner Relevanz für die
Gegenwart. Abschied von Kakanien kann
als Pflichtlektüre für eine österreichische und
damit europäische Allgemeinbildung gewer¬
tet werden. Die Aufnahme in den Lehrplan
von Schulen und Universitäten ist dringendst
geboten.
Paul Rosdy
Michael Ley: Abschied von Kakanien. Anti¬
semitismus und Nationalismus im Wiener Fin
de siécle. Wien: Sonderzahl 2001. OS 298,¬