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Hellfried Brandls Vermächtnis Der langjährige ORF-Redakteur Hellfried Brandl war einer der profiliertesten und hellsichtigsten Rundfunkjournalisten Österreichs. In seinen letzten Lebensjahren wurde er vom ORF jedoch eingespart und arbeitete nur mehr für deutsche Rundfunkanstalten. 1944 geboren, erkrankte Brandl 1999 an „Amyotropher Lateralsklerose“ (ALS), über die Roland Machatschke im Vorwort schreibt: „Ein ALS-Kranker ist ein denkender und fühlender Mensch in einem allmählich erstarrenden Körper, ein lebendiger Geist in einer zum unbeweglichen Panzer gewordenen Hülle.“ Das vorliegende Buch ist Brandls Vermächtnis. Die sensibel geführten Gespräche, viele davon mit Überlebenden der NS-Zeit, kreisen immer wieder um die große Wunde, um den Zivilisationsbruch von Auschwitz. Die Gesprächspartner sind: Miep Gies, Leon Harari, Bruno Bettelheim, Helmut Gollwitzer, Günther Anders, Rafik Schami, Gottfried Wagner, Nike Wagner, Rudolf Burger und Doron Rabinovici. Für Leser der ZW besonders interessant: Das Gespräch mit dem israelischen Dichter Tuvia Rübner. Weiters ist bemerkenswert: Die Parallelisierung der Lebenswege von Erwin Chargaff und Victor Weisskopf. E.A. Hellfried Brandl: Begegnungen. Gespräche mit Zeitzeugen. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2002. 182 S. Helden und Vorbilder Isaiah Berlins Verbeugung vor den „großen Geistern“ seiner Zeit Daß nicht jeder Satz eines klugen Denkers weise und nicht jeder seiner Gedanken tiefschürfend sein muß, mag genauso eine Binsenweisheit sein wie die Tatsache, daß nicht jeder Text, als dessen Verfasser ein berühmter Autor zeichnet, automatisch publikationswürdig ist. Verlage sehen das „naturgemäß“ anders und erweisen damit weder dem Autor noch seinen Lesern einen guten Dienst. Auf etwa ein Viertel seines tatsächlichen Umfanges reduziert, hätte man die im Berlin Verlag erschienen „Persönlichen Eindrücke“ von Isaiah Berlin durchaus als gelungenes Buch bezeichnen können. So aber findet man hier manches, was man getrost Historikern und Biographen überlassen hätte können, anstatt damit eine breitere Leserschaft zu belästigen. Der 1997 verstorbene liberale englische Philosoph Isaiah Berlin gehörte einer Generation an, die über ein ernstes Thema im amüsanten Plauderton zu räsonnieren und dabei neben geistreichen Bonmots auch so manchen Allgemeinplatz von sich zu geben und nicht ganz ernst gemeinte Anekdoten zu erzählen verstand. Im vorliegenden Sammelband — laut Herausgeber Henry Hardy, „die zweite Auflage eines der fünf Bände“ von Berlins „bis dahin nicht in gesammelter Form erschienenen Essays“ — schreibt der Autor in diesem Stil unter anderem über Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, über Chaim Weizmann, Albert Einstein, Virginia Woolf, Aldous Huxley und über einige andere, heute nur mehr wenigen bekannte Zeitgenossen, über Gelehrte vor allem, die er in den Universitätskreisen von Oxford in den 1930er Jahren kennengelernt hatte. Am interessantesten ist dabei vielleicht das Porträt von L.B. Namier, eines exzentrischen Historikers polnisch-jüdischer Herkunft. „Seine Herkunft ließ ihn nicht los“, schreibt Berlin. „Sein morbider Haß auf Unterwürfigkeit, der auf seine Erfahrungen mit Polen und Juden in Galizien zurückgehen mochte, nahm oftmals fürchterliche Formen an... Ersprach von Juden als ‚meinen Rassegenossen’ und weidete sich offenbar an dem peinlichen Effekt, den dieses Wort bei Juden und Christen gleichermaßen hervorrief.“ An anderer Stelle heißt es jedoch über einen Artikel Namiers zur Lage der Juden im modernen Europa: „Es war der beste und eindrucksvollste Text zu diesem Thema, den ich oder wohl überhaupt irgendjemand jemals zu diesem Thema gelesen hatte.“ Gut, daß Namier schon lange tot ist, sonst hätte er sich nach einem solchen Lob gut überlegen müssen, ob er jemals noch einen Text „zu diesem Thema“ schreiben soll. Nein, die kritische Analyse, das differenzierte Psychogramm oder eine profunde Auseinandersetzung mit Leben und Werk der von ihm Porträtierten waren nicht Berlins Ziel. „Er“ (der Historiker John Petrov Plamenatz), heißt es zum Beispiel, „hatte eine Abneigung gegen Angebertum, Banalität, Großtuerei, Aufdringlichkeit, Pöbelhaftigkeit und Opportunismus in jeder Form... Er war freundlich und würdevoll; Konkurrenzdenken war ihm vollkommen fremd.“ Die widersprüchlichen Seiten im Leben solch „großer Männer“ (als solche werden die vom Autor Porträtierten von Noel Annan, dem Verfasser der Einführung, bezeichnet) erscheinen bei Berlin als sympathische Schwächen oder Schrullen. „Große Männer“ (zu denen übrigens auch einige Frauen gerechnet werden) verlieren auch dann ihre Größe nicht, wenn sie scheitern. Berlins Essays „sind wahre Lobeshymnen“, erklärt Noel Annan. Doch nicht der Ruhm berühmter Menschen habe Berlin fasziniert, sondern ihr Genie. „Er schämt sich nicht, Helden zu verehren.“ Das meiste, was der Autor iiber Helden wie Weizmann, Churchill oder Einstein zu erzählen weiß, ließe sich allerdings in einem guten Geschichtsbuch nachlesen. Interessanter werden Berlins biographische Essays dann, wenn er sich mehr auf seine Beobachtungsgabe, sein Gedächtnis und sein gutes Auge fürs Detail verläßt, anstatt seine „Eindrücke“ in den Vordergrund zu rücken, dort also, wo er beschreibt und nicht (das meist Offensichtliche) zu erklären versucht. Zu den solcherart lesenswerten Passagen des Buches gehört das Kapitel über die Begegnungen mit russischen Schriftstellern. Berlin war in den Jahren 1945 und 1956 als Angehöriger des Diplomatischen Dienstes in Moskau und Leningrad. Der in Riga Geborene und perfekt Russisch Sprechende suchte Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen, zu denen auch so bekannte Schriftsteller wie Boris Pasternak und Anna Achmatowa gehörten. Mit der Wiedergabe einiger Dialoge und Szenen gelingt es dem Autor, die Atmosphäre von Angst und gegenseitigem Mißtrauen einzufangen, unter der Künstler während der Stalinzeit zu leiden hatten. Vladimir Vertlib Isaiah Berlin: Persönliche Eindrücke. Hg. von Henry Hardy. Mit einer Einführung von Noel Annan. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Berlin: Berlin Verlag 2001. 391 S. Das Theresienstädter Familienlager in AuschwitzBirkenau 1943/44 Die kurze Geschichte des Theresienstädter Familienlagers BIIb in Auschwitz-Birkenau, das von September 1943 bis Juli 1944 bestand, ist bis jetzt fast ausschließlich durch die Zeichnungen Alfred Kantors bekannt geworden. Ota B. Kraus und Pavel Stränsky waren sogenannte „Häftlinge“ dieses Lagers und betreuten in den Kinderblocks tagsüber Kinder und Jugendliche bis zum Alter von ungefähr 14 Jahren. Dies war eine Besonderheit in Auschwitz-Birkenau, denn bis auf diese und die Kinder im sogenannten „Zigeunerlager“ wurden alle sofort direkt von der Rampe in die Gaskammern geschickt. Die SS wollte diesen Teil des Lagers wahrscheinlich als „ Vorführlager“ für eine allfällige Delegation des Roten Kreuzes bereithalten. (Diese Delegation gab sich allerdings schon mit ihrem unrühmlichen Auftritt am 23. Juni 1944 in Theresienstadt zufrieden, wobei sie dort mehr Zeit beim Mittagsbankett als im Lager verbrachte.) Dafür spricht auch der „Austausch“ der „Häftlinge“ nach jeweils sechs Monaten. Man wollte der Kommission den Anschein von relativ wohlgenährten Menschen präsentieren, doch nach sechs Monaten Auschwitz-Birkenau war das nicht mehr möglich, die Menschen wurden ins Gas geschickt und aus Theresienstadt „Ersatz“ herbeigeschafft. Der Roman von Kraus behandelt den Zeitraum von Dezember 1943 — dem Transport, mit dem er und Stränsky von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden — bis zum Juli 1944, als beide die Selektion 65