OCR
diesen Fall anders als hinter vorgehaltener Hand habe reden hören, nehme ich die Gelegenheit wahr, das Schweigen zu brechen.“ (132). Das war weiterhin aus dem Exil gesprochen. Denn das Schweigen zu brechen, war eine wesentliche Intention von Lindtbergs Wirken im Exil am Zürcher Schauspielhaus gewesen: „Wir mußten nicht schweigen. Die Schauspieler, denen politische Äußerungen verboten waren, sagten, was gesagt werden mußte, laut und eindringlich mit den Worten unserer Autoren von der Bühne her.“ (63). Die Arbeit Leopold Lindtbergs war mit wesentlichen Kapiteln der Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft. Das ist meist schon vergessen und entspricht nicht dem je nach Meinung positiv oder negativ gewerteten, jedenfalls aber falschen oder einseitigen Bild vom konservativen Lindtberg, das man sich in Wien gerne macht. So es heute überhaupt noch ein Bild von Lindtberg gibt! Denn er ist überwiegend vergessen, vor allem dort, wo die Erinnerung an ihn zum Nachdenken über den eigenen Standpunkt am Theater verhelfen könnte, wenn man denn an solchem Nachdenken überhaupt interessiert wäre und sich nicht subaltern bloß dem Fluß der Mode überlassen will. Wichtige Stationen, die im Buch auch besonders prägnant dargestellt werden, sind Lindtbergs schauspielerische Tätigkeit bei Erwin Piscator, der ihn in seiner Theaterhaltung geprägt hat, ohne daß Lindtberg deshalb zu seinem Epigonen geworden wäre. Weiters die Exiljahre am Zürcher Schauspielhaus, wo Lindtberg mit seinen Inszenierungen von Exildramen oder Klassikern zu einem der Hauptregisseure des Hauses wurde. Dazu gehört wesentlich sein Einsatz zur Rettung von Schauspielerkollegen aus den Händen der Nazis, indem er den Verfolgten und Inhaftierten zu Engagements verhalf, die ihre Freilassung und Ausreise ermöglichten. In die Exilzeit fällt auch die Arbeit mit dem Habima-Theater in Tel Aviv, ein Beispiel wie sehr Lindtberg stets den Stil eines Ensembles prägte oder nötigenfalls auch veränderte und damit Grundlagen für künftige Entwicklungen baute. Die spätexpressionistisch anmutende Spiel- weise wurde vom Regisseur in eine realistische Schauspielkunst umgeformt. Metzger wertet Lindtbergs Arbeit am Habima als „Modernisierungsschritt“ und betrachtet sie als „Pionierarbeit für das künftige Nationaltheater.‘ (60). Noch weniger als die Theaterarbeit wurde bislang vielleicht die Filmarbeit Leopold Lindtbergs wahrgenommen, wenn man vom Mythos der „Vier im Jeep“ (1951) einmal absieht. In die Sammlung der gemütlichen Samstagnachmittag-Filme des ORF, in denen höchstens ein Wilderer fliehen muß, konnten Lindtbergs Werke schon gar nicht aufgenommen werden. Der Film, den Lindtberg im Rückblick als seinen wichtigsten bezeichnet — „Die letzte Chance“ — erzählt „die Geschichte von Flüchtlingen [...] für die die Überwindung der Schweizer Grenze die letzte Chance vor der faschistischen Verfolgung bedeutete.“ (107). Das Buch ist kein Schlußstein, sondern regt zur weiteren Beschäftigung mit Lindtberg an. Zwei Fragen seien in diesem Sinne aufgeworfen. Erstens: Wie ist Fritz Kortners (von Klaus Völker in seinem Kortner-Band veröffentlichtes, aber im vorliegenden Buch nicht erwähntes) bekanntes Diktum einzuschätzen, der das Burgtheater unter Haeusserman als Inkarnation dessen, was am Theater verlogen und verkitscht ist, ansah und der das unter anderem mit Hinweisen auf LindtbergInszenierungen illustrierte? Kortner sprach von „schamloser Shakespeare-Nepperei“ und verwies darauf, daß Rudolf Noelte das Burgtheater nach nur drei Tagen verlassen hatte, während „die Lindtbergs blieben — jahrelang“. Über das Problem der unterschiedlichen Arbeitsweisen hinausgehend, wäre die Frage nach dem Verhältnis Lindtbergs zu ehemaligen Exilanten nach 1945 weitere Untersuchungen wert. Das Buch selbst bietet hierfür schon einige aufschlußreiche Materialien, von denen man ausgehen kann. Zweitens: Was noch läßt sich über das Wirken Lindtbergs am Burgtheater während der Direktionszeit von Achim Benning in Erfahrung bringen, das nicht nur aus Zeitungskritiken abgeleitet wird? Zahlreiche Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner bis hin zur Direktion und deren Mitarbeiter könnte man befragen. Das wäre ein ergiebiges Thema, denn die Achtung vor den Leistungen des Exils war während dieser Phase des Burgtheaters eine andere als in der Folge. Es scheint aber evident, daß diese Zeit auch der Wissenschaft heute kaum mehr in Erinnerung geblieben ist. Im Journalismus jedenfalls hatte die darauffolgende Ära Peymann mit ihrer permanenten Skandalisierung und Selbstfeierung zu einer besonderen Amnesie allem Früheren gegenüber geführt. Ein Vorzug der Arbeit von Nicole Metzger liegt auch in der dort vertretenen Sicht auf Exil- und Nachkriegstheater. Besonders Forschungen zum Nachkriegstheater kranken daran, daß in ihnen die politischen und kulturellen Probleme als erledigt dargestellt werden. Die Nachkriegszeit erscheint in solcher Sicht als hermetisches Milieu des Kalten Kriegs, als eine rückständige Zeit, die dann im steten Voranschreiten überwunden wurde. Das Buch bricht auf schlichte Weise mit dieser Sicht, indem es deutlich macht, daß die Fragen und Probleme in unserer Gegenwart keineswegs obsolet geworden sind. Damit komme ich schließlich zu meiner eingangs versuchten Lesart des vorliegenden Buches als versteckter Streitschrift wider gegenwärtige Tendenzen am Theater. Das Buch, mit Empathie und kritischer Distanz gleichermaßen geschrieben, verklärt keinen Altmeister, zeigt auch die Ambivalenzen der späteren Arbeiten Lindtbergs und kann gerade darum einer Erinnerung auf die Sprünge helfen, was Theater sein könnte. Der Gedanke, daß eine Inszenierung nicht Design, Trend, Idee, aber auch nicht Allegorie des Unbegriffenen sein muß, sondern die kenntnisreiche, mitunter kühne Arbeit mit dem Text sowie die Arbeit mit den Schauspielern umfassen kann, klingt zur Zeit fast wie Ressentiment oder Kulturpessimismus. „Dramaturgisches Inszenieren“ lautet ein Kapitel der Lindtberg-Biographie und dieses dramaturgische Inszenieren, so lehrt uns das Buch, war mit aufgeklärtem, demokratischem Geist aufs engste verbunden. Peter Roessler Nicole Metzger: „Alles in Szene setzen, nur sich selber nicht.“ Der Regisseur Leopold Lindtberg. Mit Vorworten von Hilde HaiderPregler und Christian Jauslin. Wien/Basel: Braumiiller/Edition Theaterkultur 2002. 350 S. Zahlr. Abb. Eur 32,-/SFr 50,- (Blickpunkte. Wiener Studien zur Kulturwissenschaft: Sonderband und Schriften 23 der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur). Stimmen aus Buchenwald „Die volle Wahrheit über Buchenwald wird niemals bekannt werden.‘ Mit diesen Worten beginnt ein US-amerikanischer Armeebericht über das eben befreite KZ Buchenwald. Zu komplex ist die Lagerwirklichkeit, die Beziehungen zwischen den Häftlingen der verschiedenen Kategorien, Arbeitskommandos und Nationalitäten, zu unterschiedlich sind die eingeengten Perspektiven der Insassen. Klassisch für die Unentwirrbarkeit bestimmter Fragen ist der Streit darüber, ob das Lager wirklich von den Häftlingen (unter Führung der Kommunisten) befreit worden oder dies nur Legende sei. Wolf Kirsten und sein Sohn Holm legen keine Geschichte des Lagers vor, sondern ein Lesebuch, das Aufbau, Betrieb und Ende des Lagers mit Berichten und Erzählungen ehemaliger Häftlinge illustriert, dabei aber deren Eigenart und literarische Nuancierungen nicht mißachtet. Wichtig waren den Herausgebern die breite soziale Schichtung (die Aufzeichnungen des Metallarbeiters stehen neben denen des späteren Nobelpreisträgers für Literatur) und die Internationalität: Nicht allein Deutschsprachige kommen zu Wort, sondern ebenso Belgier, Franzosen, Jugoslawen, Polen, Russen, Spanier, Tschechen, Ungarn... Manches findet sich in dem Buch erstmals in deutscher Übersetzung, so vier Gedichte aus einer bereits 1945 in Paris erschienenen „Anthologie des Po&mes de Buchenwald“. Ein Lesebuch also, das zu neuer Kenntnisnahme auffordert, dennoch sorgfältig ediert ist und alle für das Verständnis erforderlichen Informationen bietet. In den Kurzbiographien der über 60 Autoren steckt eine große Arbeit der Herausgeber. Man merkt beim Lesen, daß die Texte nicht mechanisch aneinandergereiht 67