Sehr geehrte Damen und Herren, sehr verehrte Frau Wander,
lieber Fred,
in einer Deiner Erzählskizzen mit dem harmlos klingenden
Titel „Pferd zu verkaufen“, die Du mir vor ein paar Wochen zur
Lektüre ans Herz gelegt hast, wird auf knappstem Raum - es
sind nur zehn Zeilen — sozusagen die Geschichte aller Geschich¬
ten erzählt.
Von einem, vielleicht von Deinem Großvater wird da be¬
richtet, der — damals in den frühen 80er Jahren des 19. Jahr¬
hunderts im unendlich weiten Zarenreich - seinen fünfjährigen
Sohn - es ist der Vater des Erzählers — auf die weite Reise zu
einem Viehmarkt (Berdiczew; Kishinjow?) mitnimmt. Auf ei¬
nem Fohlen darf der kleine Bub reiten — welch ein Glück! Ein
paar Tage sind sie unterwegs. Als sie aber zurückkommen, ha¬
ben die Kosaken das Dorf der beiden niedergebrannt und die
Juden hingemetzelt. „D a s haben jüdische Kinder im Blut‘, kom¬
mentiert der Erzähler, „und gewiß nicht nur jüdische Kinder —
Millionen hungernde, geächtete und verfolgte Menschen in der
Welt.“
Warum erzihlt Fred Wander diese so — fast konnte man mei¬
nen — „alltägliche“ Schreckens-Geschichte? Der Schrecken, das
Entsetzen ist jene unheilbare Wunde, aus der Fred Wanders
Erzählkunst wächst. Was hier über ein wohl in vielen Geschichts¬
büchern vergessenes Pogrom fast lakonisch berichtet wird, ist
verknüpft mit Fred Wanders eigenen Lebenserfahrungen, näm¬
lich Armut, Ausgrenzungs-, Vertreibungs-, Exil- und schreck¬
lichsten Bedrohungserinnerungen, sozusagen Metamorphosen
der zitierten „Pferdegeschichte‘ im 20. Jahrhundert, und mün¬
det schließlich in seine berührende Theorie des Überlebens und
seine Überlegungen zur Erzähl-Kunst sowie in seine anthro¬
pologischen Gedanken zur Befindlichkeit des Menschenge¬
schlechts zwischen Heimat und Diaspora: „Angst und alle Leiden
der Welt“, so lautet denn auch das Fazit der „Pferdegeschichte“,
„wandeln sich in jene belebende Spannung, die auch Erfahrung
heißt. Erfahrung wird zu Wissen, und Wissen hungert nach mehr
Wissen. Daraus wiederum folgt jene kreative Neugier, die uns
das Leben lebenswert macht.“
„Belebende Spannung“, Verpflichtung zu unablässiger
Wachsamkeit im Alltag, „kreative Neugier‘ — damit aber sind
wir im Kernbereich von Wanders Poetik und Erzählkunst an¬
gelangt, deren authentische Prägung in der Lebensgeschichte
eines Vertriebenen und eines Mannes verankert ist, der wiederholt
mit Vernichtung bedroht war.
Fred Wander ist 1917 in Wien als Fritz Rosenblatt geboren, wo
er auch die Volks- und Hauptschule besuchte. Er arbeitete vor
der Annexion Österreichs in vielen Berufen in mehreren Ländern.
Im Mai 1938 gelang ihm die Flucht über die Schweiz nach Paris.
Dort brachte er sich mit Unterstützungen jüdischer Hilfsor¬
ganisationen und mit Gelegenheitsarbeiten durch und wurde bei
Kriegsbeginn als „feindlicher Ausländer“ interniert. 1940, nach
der Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen, flüch¬
tete er in die nicht-besetzte Zone Frankreichs, nach Marseille.
Er wurde in mehreren Lagern interniert. Im September 1942 ver¬
suchte er vergeblich, wiederum in die Schweiz zu fliehen. Er
wurde von der Schweizer Polizei mit Ketten an den Händen an
die Gestapo ausgeliefert, ins Lager Rivesaltes überstellt und über
das Lager Drancy nach Auschwitz deportiert, von dort nach
Groß-Rosen und Buchenwald, wo er im April 1945 seine
Befreiung erlebte. Vater Jakob, Mutter Berta und seine Schwe¬
ster Renée waren im September 1942 nach Auschwitz depor¬
tiert und ermordet worden, während sein Bruder Otto in einem
Versteck in Frankreich überlebte. Nach der Befreiung aus dem
KZ kehrte Wander 1945 mit einem Transport nach Österreich
zurück, zuerst nach Salzburg, dann nach Wien. Seit 1950 nennt
er sich Fred Wander, Ausdruck seiner Identität. Er arbeitete in
Wien als Zeichner, Fotograf, Reporter, Essayist und Feuilletonist
für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Auf Einladung des
Johannes R. Becher-Instituts kam Wander 1955 in die DDR und
konnte dort die Kurse des Leipziger Literaturinstituts besuchen.
Gemeinsam mit seiner Frau, der aus Wien stammenden Schrift¬
stellerin und Fotografin Maxie Wander (Elfriede Brunner), ar¬
beitet er dort als freischaffender Schriftsteller, Publizist und
Theaterautor. 1967 erhält er den Theodor-Fontane-Preis. 1983
kehrt Wander dann nach Österreich zurück und lebt seitdem in
Wien zurückgezogen, gemeinsam mit seiner zweiten Frau
Susanne. Erst im letzten Jahrzehnt wird Wanders Werk auch in
Österreich von der literarischen Öffentlichkeit aufmerksamer
wahrgenommen.
Aber was teilen solche Fakten letztlich mit? Bleiben sie nicht
im Äußerlichen? Ist es nicht das literarische Werk, das uns in
das Innen von Fred Wander blicken und ihn - vielleicht - er¬
kennen läßt?
Seine literarische Produktion ist vielfältig — Jugendbücher, Reise¬
erzählungen und Fotoreportagen (auch gemeinsam mit seiner
Frau Maxie), Theaterstücke, Essays und natürlich seine Er¬
zählungen und Romane sowie seine autobiographischen
Erinnerungen „Das gute Leben“ (1996), die Fred Wander so¬
eben für eine Neuauflage bearbeitet.
Die Erzählung „Der siebente Brunnen“ (1971), 25 Jahre nach
der Befreiung aus dem KZ Buchenwald publiziert, thematisiert
eines der Hauptthemen des Werkes, die Erinnerung an Ausch¬
witz und Buchenwald, und gibt beeindruckende Zeugenschaft:
„Wenigstens einige Namen aufrufen, einige Stimmen wieder¬
erwecken, einige Gesichter aus der Erinnerung nachzeichnen“,
wie Christa Wolf in ihrem bis heute unübertroffenen Nachwort
zu Wanders „Der siebente Brunnen“ geschrieben hat. Das Buch
wurde 1972 mit dem Heinrich-Mann- Preis ausgezeichnet.
Nicht nur ein Buch der Erinnerung an die Tage der Verfolgung
und der Flucht ist Wanders Erzählung „Ein Zimmer in Paris“
(1975), sondern auch eines über die nicht nachlassenden Äng¬
ste von Überlebenden und ein Buch über das Trotzdem des Wei¬
terlebens.
1991 erschien Wanders Roman „Hötel Baalbek“, der in den
Jahren 1940-1942 in Marseille spielt, der Stadt der Flüchtlinge
in der nicht-besetzten Zone Frankreichs, und die Willkür des
korrupten Kollaborations-Regimes von Vichy schildert, die zahl¬
losen Versuche der Bedrohten, sich in die Falten des Landes hin¬
einzugraben, um auf dem flachen Land Unterschlupf zu finden.