gen „Kosmopoliten“ setzte in Polen nach dem Arbeiteraufstand
von Poznän 1956 ein; wieder wurde der Antisemitismus benützt,
um die Diktatur der stalinistisch strukturierten polnischen kom¬
munistischen Partei nach einem kurzen Aufflackern von Hoff¬
nungen auf Liberalisierung und Demokratisierung des Systems
zu stabilisieren.
Angesichts dessen stellten Viktor Niutek Radzyner, geboren
1930 in Lodz, und seine Frau Tamar 1957 den Ausreiseantrag.
Sie hatten 1954 geheiratet; 1954 und 1957 waren die Töchter
Joana (Asia) und Olga zur Welt gekommen. Sie standen nun un¬
ter ‚Quarantäne’; Tamar arbeitete in einer Fabrik, in der
Kunstblumen hergestellt wurden. „Das Schlimmste war“, läßt
Tamar ihr Alter ego Andrzej sagen, „daß sich langsam um mich
ein kalter, leerer Kreis gebildet hat. Immer weniger Freunde ...“
(„Das neue Programm“, S. 17). Viktor Niutek war sogar Ab¬
geordneter zum polnischen Sejm (Parlament) gewesen; er stürz¬
te sozusagen von einer höheren Stufe der Nomenklatura ins ge¬
sellschaftliche Nichts.
Doch beiden war schon Schlimmeres widerfahren. Sie wa¬
ren, nach der Besetzung von Lodz durch die deutsche Wehrmacht,
noch als Kinder gezwungen worden, den Judenstern zu tragen,
und mit ihren Eltern und den nahezu 200.000 Juden der Stadt
in das im Februar 1940 errichtete Ghetto von Lodz eingewie¬
sen worden. Hier herrschte der umstrittene Judenälteste Mor¬
dechai Chaim Rumkowski, der auf Kooperation mit den Deut¬
schen setzte, um das Leben wenigstens eines Teils der Ghetto¬
insassen zu erhalten. Die Härte der Lebensbedingungen im
Ghetto läßt sich daraus ablesen, daß von den 1942 aus Berlin,
Frankfurt am Main, Wien hierher Deportierten kaum einer mehr
die Auflösung des Lagers im August 1944 erlebte. Hier wurden
Kinder, herangezogen zur Herstellung der von den Deutschen
bestellten Güter und oft bald elternlos, rasch erwachsen. ,, Wah¬
rend die Bevölkerung des Ghettos“, berichtet Ray Eichenbaum,
„durch Hunger, Krankheit und die Transporte dezimiert wurde,
lebte die Rumkowski-Bande für Ghettoverhältnisse in Saus und
Braus.‘” Der junge Viktor Niutek Radzyner war im Ghetto Lodz
ein Anführer der Widerstandsbewegung gegen Chaim Rum¬
kowski gewesen — legendär der „Suppenaufstand‘“, bei dem es
um die ungerechte Verteilung der Lebensmittelrationen ging: Die
Jugend weigerte sich, die Lagersuppe zu essen.
In gewisser Weise hat Rumkowki, indem er durch seine Will¬
fährigkeit gegenüber den deutschen Herren ein längeres Fort¬
bestehen des Ghettos erreichte, Tamar Fajwlowicz gerettet. Denn
als die verbliebenen Insassen des Ghettos Lodz 1944 nach Ausch¬
witz gebracht wurden, war Tamar bereits zwölf Jahre und hat¬
te eine - freilich ziemlich geringe — Chance, nicht durch Giftgas
ermordet zu werden, sondern als Arbeitssklavin noch ein we¬
nig weiterleben zu dürfen. Sie kam u.a. nach Stutthof. In dem
Fragment „Die Osternabende“' erinnert sie sich an den „Ge¬
schmack des Zementstaubes“, „der meinen Vater an jenem Tag
in Stutthof umwölkte, als er in seiner gestreiften Häftlingsuni¬
form, keuchend, gebückt, die Zementsäcke vom Schiff herun¬
tertrug.‘“ Und weiter: „Wie war die Ostsee, als man vor dem
Beginn der Sowjetoffensive, die menschlichen Überreste des KZ
Stutthof schleunigst ertränkt hatte? Dort, in diesem salzigen
Wasser, an dem kein Wunder geschah und kein Moses erschi¬
en, wurden Tola und Dziunia, Halina und Dodo ermordet.“'' Ins
KZ Flossenbürg verlegt, gelang ihr im Frühjahr 1945 die Flucht
ins Gebiet des damaligen Reichsprotektorats Böhmen und
Mähren. (Aus der ÜSR kehrte sie dann nach Polen zurück.) Ihre
Eltern und vier ihrer fünf Geschwister wurden Opfer des na¬
tionalsozialistischen Massenmordes.
Im September 1959 durften die Radzyners endlich nach Wien
ausreisen. In Wien besaß der Großvater Viktor Niutek Radzy¬
ners einen Wäschereibetrieb mit mehreren Filialen und unter¬
stütze die Neuangekommenen. Sie konnten zuerst bei einer
Urgroßmutter in der Mariahilferstraße wohnen. Viktor Niutek
war im Marxismus-Leninismus ziemlich beschlagen, kannte sich
aus mit der Politischen Ökonomie, war geschult und wußte sei¬
ne Thesen zu vertreten. Als Marxist deklarierte er sich bis zu¬
letzt. Tamar Radzyner hingegen war eher ‚Gefühlskommunistin’,
aus Empörung über das Unrecht, aus Liebe zu den menschlichen
Möglichkeiten." Durch die Exilsituation und unter dem Druck
des wohlhabenden Großvaters war Viktor Niutek gezwungen,
Kaufmann zu werden; das Geschäftsleben sagte ihm wenig zu,
und er scheint auf diesem Gebiet nicht besonders erfolgreich ge¬
wesen zu sein. Tamar ihrerseits begann in Wien ein Medizin¬
studium, das sie aus finanziellen Gründen abbrechen mußte.
Dem Antisemitismus waren die Radzyners durch das Ver¬
lassen Polens nicht entkommen. Im Nachkriegsösterreich war
es aufgrund der Unterdrückung der Erinnerung an die Verbrechen
der NS-Zeit praktisch unmöglich, offen gegen den latenten
Antisemitismus aufzutreten. In dem Gedicht „Damals“ zeich¬
net Tamar die österreichische Situation mit knappen Strichen:
[...]
Ein junger Rat
im Rathaus meinte:
Sie mußten doch
Asia Radzyner erinnert sich'‘, daß sich Tamar beim Schuster als
„Frau Bauer“ ausgab; die Téchter, die das Lycée francais be¬
suchten, sollten in der Schule nicht sagen, daß sie „jüdisch“ sei¬
en. Von den Kindern wurden besonders gute schulische Leistun¬
gen erwartet: Nur wenn man höher qualifiziert war als die an¬
deren, durfte man sich in diesem Land eine Chance auf ein Fort¬
kommen ausrechnen.
Tamar hatte schon in polnischer Sprache Gedichte geschrie¬
ben, später, ab etwa 1964 in Wien, schrieb sie auf Deutsch. Ihre
Muttersprache war, wie bei den meisten polnischen Juden,
Jiddisch gewesen (zumindest dürfte das Jiddische im Kreis der
Verwandten geläufig gewesen sein), ihre Schulsprache das
Polnische. Ihre auf Polnisch verfaßten Gedichte und Aufsätze
sind ganz und gar hochsprachlich; ihre deutschsprachigen
Arbeiten sind ohne den Hintergrund einer profunden Kenntnis
der deutschen Literatur und Grammatik (so verwechselte sie
leicht den Dativ und den Akkusativ) entstanden. Sie hatte ein
Ohr für die Phraseologie, für die spezifische Ausdrucksweise.
Die Vertrautheit mit dem Jiddischen wird ihr jedoch sehr ge¬
holfen haben. Mit einiger Übertreibung könnte man sagen, ih¬