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re deutschsprachigen lyrischen Texte seien Montagen, aus den aufgeschnappten Fetzen eines zunächst befremdenden Idioms zusammengetragen. Sie selbst las mit Vorliebe englische (obwohl sie Englisch nicht sprach), französische und polnische Literatur — kaum deutsche. Außerdem wurde auch in Wien unter den Familienangehörigen zuhause polnisch geredet". Im Vergleich mit Stella Rotenberg, die jahrzehntelang abgeschnitten vom deutschen Sprachraum in England lebte und doch immer nur in deutscher Sprache schrieb, scheint der Zugang Tamar Radzyners zur deutschen Sprache ein entgegengesetzter: Dort, bei Stella Rotenberg, die Bewahrung der Wiener Hochsprache wie unter einem Glassturz, hier, bei Tamar Radzyner, Sprache nur durch blitzartiges Aufschnappen, rasche Erinnerungsspur. Dort Verweigerung der aus der englischen Umgangssprache eindringenden Sprachfetzen, hier ihre Aufnahme und kritische Verarbeitung - in ziemlicher Respektlosigkeit der deutschen Sprache gegenüber, die für Tamar kein solch ehrfurchtsgebietendes Erbe darstellte wie für Stella Rotenberg. (Der Gegensatz entfaltet sich gerade auf der Grundlage der tiefen thematischen Verschwisterung beider Dichterinnen.) An die Öffentlichkeit gelangt sind Tamars deutschsprachige Texte zuerst durch die Verbindung mit Topsy Küppers, die Tamars Texte vortrug, und Georg Kreisler, der einige ihrer Texte vertonte. Kreisler schreibt dazu: In den frühen 60er Jahren hatte meine damalige Frau Topsy Küppers eine Radiosendung in Wien (vorher in München), die hieß „Das unbekannte Chanson“. In der wurde das Publikum aufgefordert, Chansontexte einzusenden, die dann vertont und im Funk von ihr gesungen werden sollten. Mir fiel dabei die Aufgabe zu, diese Texte zu lesen und die besten auszusuchen. Wie Sie sich vorstellen können, waren die meisten der eingesandten Texte miserabel und nicht zu brauchen. Aber eines Tages fielen mir zwei Texte auf, die aus den übrigen herausstachen, mehr als das, die ausgezeichnet waren, und die waren von Tamar. Ich schrieb ihr damals sofort einen Brief, und so lernten wir uns kennen." Es ist kein Wunder, daß Tamar Radzyner bei einem Georg Kreisler Beachtung fand. Er gehörte wie Radzyner zu den vom NS-Regime Verfolgten und war selbst erst 1955 aus dem erzwungenen Exil in seine Geburtsstadt Wien zurückgekehrt. Er konnte, abseits vom österreichischen Literaturbetrieb stehend und den Antihumanismus der zu neuen Ufern aufgebrochenen ehemaligen Hitlerjungen nicht teilend, die Ortlosigkeit und Nichtzuordenbarkeit der Gedichte Tamar Radzyners akzeptieren. Kreisler hat, nach Tamars Tod (am 7. Juni 1991 in Wien), einen Band ihrer Gedichte zur Publikation vorbereitet, „Laßt mich abends nicht allein zu Hause!“, und mit einem Vorwort versehen’, der leider unveröffentlicht blieb. In dem Vorwort schreibt er: Zwischen Tamar und mir gab es ... fast von Anfang an ein stilles, schwer zu beschreibendes, streng platonisches Übereinkommen, einander verstehen zu wollen. Ähnlich wie Georg Kreisler stellt Topsy Küppers das erste Zusammentreffen dar. Sie fügt ein aufschlußreiches Detail hinzu: Es war äußerst schwierig, Tamar bei Sendungen zu placieren, da sich im ORF [Österreichischer Rundfunk] herumgesprochen hatte, daß sie vor ihrer Flucht eine kommunistische Funktionärin [gewesen] war und im polnischen Rundfunk dementsprechend gearbeitet hatte. Ich habe dann ihre Arbeiten unter dem Pseudonym von Tamars Mutter (Mlotetzky) eingereicht und bei der AKM [Verwertungsgesellschaft] gemeldet.“ 60 Ein kleiner Irrtum ist hier zu berichtigen: Mlotecky (von Milotek, der Hammer) war der Untergrundname Viktor Niutek Radzyners, den er nach 1945 vorübergehend auch als seinen offiziellen annahm. — Am 28. September 1971 stellte Topsy Kiippers Tamar Radzyners Dichtungen in der Gesellschaft fiir Musik in Wien vor. Dariiber erschien eine kurze Kritik in der Tageszeitung ,,Die Presse“: Novellen, Kurzromane, Epigramme, Lyrik. Erfiillt von einem seltsam beriihrenden Trauerton, den man als sachlichen Weltschmerz charakterisieren könnte. Die Ausweglosigkeit der grauen Alltagsexistenz ist ihr Stoff, die Lieblosigkeit der Umwelt, das eigene Versäumen, Mensch zu sein über bloßes Vegetieren hinaus. Man braucht sich nicht zu fragen, was denn Tamar Radzyner zu dieser Lebenssicht gebracht hat. Das jüdische Schicksal in Polen formte ihr Wesen, darin steckt alles. Um so ergreifender, daß sie dann und wann zu Humor findet.” Die wenigen Zeilen sind keineswegs gedankenlos abgefaßt. Man merkt, daß der unbekannte Kritiker die Worte genau wägt. Und doch bieten seine wohlgemeinten Zeilen ein ungewolltes Anschauungsmaterial für die in Österreich damals nur sehr eingeschränkt mögliche Rezeption der Texte Tamar Radzyners. Sie wird, um es ganz knapp zu sagen, einseitig als leidend Hinnehmende und nicht als zugleich Widerstehende gezeichnet.” Die allzu geläufige Wendung, das „jüdische Schicksal in Polen“ bedürfte gleichfalls einer Erörterung, die mit der Anmerkung beginnen müßte, daß der von Hitlerdeutschland nicht annektierte, militärisch besetzte Teil Polens „Generalgouvernement“ hieß, und daß der polnische Staat in dieser Zeit bloß durch eine Exilregierung repräsentiert wurde. (Es ist merkwürdig, daß Angehörige einer Nation — der österreichischen -, die ihre Existenz