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Eine Rabbinerin in Wien Ausgerechnet in Wien? Eine Rabbinerin! Es ist ein Wunder! Oder doch nicht? Wien war und ist nicht gerade ein fruchtbarer Boden für liberale Bestrebungen. Im 19. Jahrhundert waren sie eng mit dem jüdischen Bürgertum der Stadt verbunden. Der Liberalismus verlor mit den Wahlrechtsreformen und dem Aufstieg der Christlichsozialen politisch an Boden. Und durch die Shoa fanden Weltoffenheit und Fortschritt in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur vorläufig ein Ende. Die Liberalen haben es in Österreich immer noch schwer, das zeigen auch jüngste Erfahrungen in der Politik. Und nun beginnt wiederum eine zaghafte liberale Bestrebung in einer jüdischen Gemeinde, zwar nicht in der Politik, sondern in einer religiösen Gemeinde, und sie setzt eine RABBINERIN als geistliches Oberhaupt ein. Das kommt auch in einer jüdischen Kultusgemeinde einem Aufstand gleich. Doch die liberale Gemeinde „Or Chadasch“ (Neues Licht) hatte sich vorgenommen, das „Judentum zu erneuern“. Ein lapidarer Kommentar von Eveline Goodman-Thau dazu: „Es schien mir ganz natürlich, daß ich eine Rabbinerin in Wien sein sollte: Erneuern wollte ich immer alles sowieso, und Rabbinerin wollte ich schon immer sein.“ Sie hatte Jahre lang — wenn auch nur im Spaß — verkündet, daß es eigentlich nur einen Beruf gebe, in dem sie wirklich gut wäre, und das sei „Rabbinerin“. Warum nur im Spaß? Ganz einfach, weil auch sie als kluge Jüdin wußte, „daß sie als orthodoxe Jüdin, wenn auch unorthodoxe Frau, niemals Rabbinerin werden konnte“. Und doch bekam sie dieses Angebot, ausgerechnet aus Wien. So kehrte Eveline GoodmanThau zum ersten Mal wieder nach Wien zurück. Seit der Flucht 1939 war niemand von ihrer Familie mehr nach Wien gekommen. Goodman-Thau landete gleich in „einer Ecke des Karmeliterviertels“, in dem ihre Großmutter zu Hause gewesen war. Kurze Zeit später, bei der Inauguration zur Rabbinerin im Prunksaal der Nationalbibliothek, wird die Enkelin sagen: „Obwohl dies mein erster Besuch hier in Wien ist, gehören die Stadt Wien und das jüdische Leben in Wien für mich zur Erinnerung: eine Erinnerung, die mir übertragen wird durch die Augen meiner Großmutter, die hier neben mir steht. Durch die Art und Weise, wie sie denkt und ihr Verhältnis zum Leben in Europa. Darum wußte ich etwas über Wien, noch bevor ich wußte, daß es eine Stadt mit Namen Wien gibt.“ Eveline Goodman-Thau kommt also zurück, nicht um — wie sie sagt — ihr materielles, sondern um ihr geistiges Grundstück abzuholen, „um der nächsten Generation (Juden und Nicht-Juden) ein identitätsstiftendes und würdiges Geschichtsbewußtsein zu ermöglichen“. Doch wie sie selbst formuliert: „Es gibt in der patriarchalischen Welt bestimmte Spielregeln. Das Ärgste ist, diese Regeln zu brechen. [...] „Und das habe ich maßlos getan“, gibt sie zu. So wird sie von der Synagoge ausgesperrt, denn als Rabbinerin ist sie dort nicht willkommen. Leider versiegt auch innerhalb der Or Chadasch der Mut. Nach internen Uneinigkeiten über ihre Führung endet nach einem Jahr das Rabbinat von Eveline Goodman-Thau. In ihrer Abschlussrede, Anfang April 2002, findet sie Worte der Weisheit und der Versöhnung: „Zum Schluss möchte ich der Or Chadasch meine Wünsche für die Zukunft aussprechen in der Form von vier Lichtern zur Ehre der vier Mütter, der Arba Imahot — Sara, Rebecca, Rachel und Lea. (...) Jeden Freitag, wenn ihr diese Leuchter der Schabbatkerzen anzündet, werdet ihr vielleicht, hoffentlich, eure Rabbinerin in guter Erinnerung haben. Es ist wieder Frühling, wir haben zum zweiten Mal Purim und Pessach zusammen gefeiert. Die Bäume blühen wieder im Prater und es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich bin dankbar für alles, Schabbat Schalom. ... So wird auch die Mesusa eines Tages, hoffentlich bald, ihre Leerstelle finden durch den Verdienst der Mutter, wie es im Talmud heißt (Jesaja 54,10): ‚Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen’ - dies deutet auf das Verdienst der Väter, aber von dorthin weiterhin geht es um das Verdienst der Mütter, ‚und meine Liebe (chessed) wird nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht hinfallen, spricht Gott dein Erbarmer ...’“ So großmütig auch diese Worte geklungen haben mögen aus dem Munde dieser Frau, der Abgang bedeutete für sie eine Verletzung. Daraus entstand das Buch „Eine Rabbinerin in Wien“. Aus diesem Buch spricht die Verletzung einer Frau, eines verletzten Kindes, das diese Stadt verlassen mußte als Flüchtende, weil sie Jüdin war. Und als sie nach Jahrzehnten wiederkommt, darf sie als „einfache“ Jüdin zwar das Gebetshaus betreten, aber nicht als „maßlose Jüdin“, als Rabbinerin. Aber aus diesem Buch sprechen nicht nur Verletzungen, auch eine wunderbar feine Ironie, gepaart mit Humor und den kleinen Bosheiten einer sehr sehr klugen und intelligenten Frau. Und das besonders, wenn Eveline GoodmanThau über Wien und seine Bewohner spricht. Zwischen den Zeilen vermittelt sich der Eindruck, sie nimmt keine Bevölkerungsgruppe aus, denn letztendlich wird in dieser Stadt irgendwann jeder zum „Wiener“. Ihr „Wiener Wörterbuch“ — die Wiener Seele in ihren verbalen Verrenkungen - ist dank dem Wissen von Eveline Goodman-Thau um die psychologischen und philosophischen Feinheiten als ein Gustostückerl dieses Buches anzusehen. Doch wenn sie über ihre Aufgabe als Rabbinerin spricht, ist sie voll Sendungsbewußtsein und erfüllt vom Bekenntnis zum Judentum. Am 6. Mai 1945 wird Holland befreit, das Land in dem Goodman-Thau mit der engsten Familie überlebt hat. Und am 6. Mai 2001 war die Inauguration zur Rabbinerin. Und sie wünschte sich auch die Buchpräsentation wieder an einem 6. Mai. Österreich gedenkt nach 58 Jahren der Befreiung und des Kriegsendes, und wir sind gerade erst dabei, uns die sogenannte Restitution abzuringen. Goodman-Thau spricht sicher vielen aus der Seele, wenn sie meint, man könne mit der Bezahlung seiner Schulden nicht auch die Schuldfrage lösen, wenn nicht eine Versöhnung stattfindet. Und meint damit die Vergebung des Unverzeihlichen. Dieses Buch ist ein Beitrag zu einer Versöhnung. Cecile Cordon Eveline Goodman-Thau: Eine Rabbinerin in Wien. Betrachtungen. Wien: Czernin Verlag 2003. 182 S. Euro 19,— Lange wurde die jiddische Kultur aus Osterreich verleugnet oder ignoriert, das Jiddische als Jargon sogar von Juden selbst verachtet. Aber die moderne jiddische Literatur, die im historischen österreichischen Raum entstand, gehört zur Weltliteratur. Im heutigen Österreich ist kein Schriftsteller mehr zu finden, der noch jiddisch oder hebräisch schriebe; und dort, wo Erinnerung sein sollte und nötige wäre, klaffen die schwarzen Löcher der Unwissenheit und des Vergessen. Der nun vorliegende Sammelband faßt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Tagung „Jiddische Kultur und Literatur aus Österreich“ vom November 2001 in Salzburg zusammen. Jiddische Kultur und Literatur aus Österreich Jahrbuch Zwischenwelt, Band 8 Hg. im Auftrag der TKG von Armin Eidherr und Karl Müller Wien, Klagenfurt/Celovec: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft und Drava Verlag 2003. 275 S. ISBN 3-85435-418-5. Euro 21,-/SFr 36,30 77