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weist den „alleinigen geistigen‘ Verfügungsanspruch jener passionierten Gralshüter in die Schranken, die Auschwitz nicht als das anerkennen wollen, was es ist: als Hypothek und Erbe, als Mahnung und Auftrag für alle Menschen rund um den Globus. Deshalb wendet er sich entschieden gegen die Vereinnahmung des Holocaust und dessen stückweise Aushöhlung etwa von Seiten Hollywoods; er lehnt den sich ausbreitenden Populismus ab genauso wie die Tendenz, die von Auschwitz als Kulisse und Rohstoff für wohlfeile „Warenartikel“ profitieren möchte. Während Kertész im Holocaust einen „Wert“ erblickt, mit dem sich Chancen im Kulturellen eröffnen, wittert er in der „Stilisierung“ und im zelebralen Umgang damit Manipulation, wenn sie allmählich eine Entfremdung zwischen Auschwitz und seinen Opfern bewirkt. „Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muß, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erlebnissen übereinstimmt; der authentische Zeuge ist schon bald nur im Weg, man muß ihn beiseite schieben wie ein Hindernis“. Er befürchtet angesichts des Verbots der persönlichen Sicht des Holocaust der einstigen KZ-Insassen die Nivellierung von Auschwitz hin zu einer konformen Erinnerungs(un)kultur und die Ausbildung eines Kanons, der vom Klischee geprägt wird. Das Kunst-Werk, von welcher Qualität auch immer, schiebt sich vor die Wirklichkeit und verdeckt jene, die eigentlich im Vordergrund stehen müssen: die Überlebenden. Kertesz weist folglich auf ein Dilemma hin: hier das unbedarfte Publikum, das ein Artefakt wie Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“, der mit seinem vermeintlichen Doku-Realismus besticht, für echt annimmt, weil er detailliert schildert und offenbar restlos „aufklärt‘“, dort das individuelle Erlebnis, die subjektive Schau und die daraus erwachsene literarische Beschäftigung, die sich „nur“ anzudeuten gegnügt und der je eigenen Vorstellungskraft noch genügend Raum läßt. Wird Europa auferstehen? Eine bange Frage, die angesichts des neuen Partikularismus in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, der rassistischen Untertöne und chauvinistischer Gesinnungen berechtigt klingt. Oder: Was können EU-Europa und der Brüssel-Zentralismus jenen in den westlichen Wirtschafts- und Währungsverband drängenden Staaten überhaupt bieten? Hat sich die Idee von Europa vielleicht schon überlebt? Kertesz bekundet Skepsis an der täglichen Praxis eines Europas der Kartelle und Normvorschreibungen, das vielfach Vereinnahmung, Gleichschaltung und Anpassung bedeutet. „Osteuropa war niemals so europäisch, da es so entfernt von Europa war“, behauptet er deshalb. „Denn diese Entfernung wurde von der Sehnsucht überbrückt, und was ihr fehlte, war die fehlende Wirklichkeit Europas, eine Tatsache, die die Existenz dieser östlichen Sphäre zur Absurdität und ihren Alltag zum bloßen Dahinvegetieren werden ließ.“ Für den „europäischen Geist“, diesen gärenden „Sauerteig“, bleibt da nicht mehr viel Platz. Dessen ungeachtet setzt Kertesz sein Vertrauen auf dieses Potential, von dem er andeutet, dass er darunter Demokratie als Kultur und Bürgerlichkeit aus der Tradition der Französischen Revolution mit der Bereitschaft des Individuums zu Verantwortung und Pflichtgefühl subsumiert, ohne die Chiffre allzu sehr einzuengen. Das gemeinsame Haus Europa, für das Namen wie Richard CoudenhoveKalergi und Winston Churchill, Sandor Märai und Thomas Mann stehen, wird zunächst jedoch erst einmal die „Feuertaufe der moralischen-existentiellen Auseinandersetzung mit dem Holcaust‘ bestehen müssen. Kertesz plädiert dafür, Auschwitz endlich als wichtigen Baustein für Europa zu verstehen zu lernen, auch um zu verhindern, dass Kultur versagt und Genozid und Barbarei weicht. „Auschwitz“, der Holocaust, bemerkt Kertesz, „muß von derselben Zivilisation reflektiert werden, in deren Rahmen er sich vollzogen hat, sonst wird sie selbst zu einer Pannen-Zivilisation, zu einem invaliden Protozoon, das hilflos seinem Untergang zutreibt.“ Kertesz entlässt den Leser mit der konkreten Aufforderung zum Handeln und ermuntert ihn dazu, die „unermeßliche moralische Reserve“, die Auschwitz auch bedeutet, und das ungeheure Wissen, das der Holocaust gebracht hätte, nicht länger brach liegen zu lassen. Die Leere — das kann gar nicht oft genug gesagt werden -, die der Holocaust hinterlassen hat, zum Segen der Menschheit neu zu besetzen und ihm einen Sinn so zu unterlegen, dass er zum Vorteil Europas genützt werden kann - darin liegt die Botschaft dieses Buches. Arnold Klaffenböck Imre Kertesz: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Mit einem Vorwort von Peter Nädas. Frankfurt: Suhrkamp 2003. 259 S. Die deutsche Bibliothekshistorikerin Maria Kühn-Ludewig (Dortmund/Paris) hat mit dieser Monographie Johannes Pohls eine auf längerer Forschungstätigkeit basierende Arbeit vorgelegt, die vor allem durch die Dichte der Quellen besticht, die den außergewöhnlichen Lebensweg des Beschriebenen fast exakt nachvollziehen läßt. Der 1904 geborene Johannes Pohl wuchs in einem Kölner katholischen Milieu auf und scheint schon früh dafür bestimmt worden zu sein, Priester zu werden. Neben dem theologischen Studium in Bonn (Dissertation 1929: Die Messiaserwartung beim Propheten Ezechiel) diente er als Vikar in einer Essener Pfarre. Die Erzdiözese Köln entsandte ihn 1929 zu dreijährigen Sprach- und Bibelstudien an das Päpstliche Bibelinstitut nach Rom. Im Studienschwerpunkt Altes Testament lernte Pohl Hebräisch und erwarb ein weiteres Doktorat („Bibel-Doktor“) mit der Arbeit Familie und Gesellschaft in Israel nach den Schriften der Propheten. Als Stipendiat der katholischen Görres-Gesellschaft war er 1931-34 am Orientalischen Institut der Görres-Gesellschaft in Jerusalem, wo er auch für den Deutschen Verein vom Heiligen Land tätig war. 1934 trat Pohl aus dem Klerikerstand aus und heiratete eine Frau aus der Jerusalemer deutschen Kolonie, die ihm im Herbst 1934 nach Deutschland folgte. 1935 begann er als Referent für Hebraica an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin zu arbeiten, Nutznießer der Entlassung von zwei Kollegen jüdischer Herkunft, von denen einer (Arthur Spanier) später im KZ Bergen-Belsen ermordet werden sollte. Der ehrgeizige Pohl bekam rasch ein Gespür für das Thema, das ihm bei den Nazis Profilierungsmöglichkeiten eröffnete: die sogenannte „Judenfrage“. Schon bald tat er sich mit antisemitischen Beiträgen in der Zeitschrift Mitteilungen über die Judenfrage hervor, die vom Institut zum Studium der Judenfrage herausgegeben wurde, das dem Propagandaministerium nahestand. Darunter war auch der Artikel Was ist der Talmud? In der Folge sollte sich Pohl noch öfters — u.a. in dem Hetzblatt Der Stürmer - als „Experte“ für Fragen des Talmud betätigen. Der Talmud nahm eine zentrale Rolle in der antisemitischen Mythenbildung ein, als angebliche Quelle eines „jüdischen Hasses gegen die Nichtjuden“. 1937 wurden, wahrscheinlich vermittelt vom NS-Philosophen Alfred Baeumler, erste Kontakte zum „Amt Rosenberg“ geknüpft. Alfred Rosenberg war als Beauftragter des Führers fiir die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP bemüht, mit einer Mischung aus Mystik, Rassismus und Pseudowissenschaft den Machtanspruch des Nationalsozialismus ideologisch zu begründen. Die Talente Pohls, als vermeintlicher „Kenner“ des Judentums, kamen Rosenberg und seinen Leuten sehr gelegen. 1938 legte Pohl die bibliothekarische Fachprüfung (Prüfungsarbeit: Führer durch die Bibliotheken Palästinas) ab und unternahm 1939 auch einen Habilitationsversuch an der Universität Berlin für semitische Philologie und Geistesgeschichte des vorderen Orients (Thema: Talmudzensur), der aber jämmerlich scheiterte. Die Gutachter stellten der Arbeit Pohls ein vernichtendes („ungenügend und wertlos“) Urteil aus. Pohl kompensierte die Zurückweisung mit enormem Publikationsfleiß. Kühn-Ludewig konnte einige Dutzend Veröffentlichungen, vor79