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Die Geschichten, die Max Sebald erzählt, sind eine erstaunliche Kombination von authentischen Lebensgeschichten, Erfundenem, geschichtlichen Ereignissen und Gedanken des Autors. Die Personen aller dieser Geschichten erleiden einen Bruch in ihrem Leben, der sie zum Schluß hoffnungslos und verzweifelt ihr Leben beenden läßt. Es ist ein Bruch, der durch die Auswanderung infolge des nationalsozialistischen Regimes entsteht, ein Bruch durch die Ermordung der Familie im Konzentrationslager, der Familie, die Wärme und Schutz bedeutete, ein Bruch, der die Trennung von allem Vertrauten war. Die Themenwahl zeigt schon, daß es sich um jüdische oder zum Teil jüdische Menschen handelt. Um die Wahl dieser Themen nachzuvollziehen, muß man die Biographie von Max Sebald kennen. Er wurde im Mai 1944 in Wertach im Allgäu in einer katholischen Familie geboren und erlebt seiner Aussage nach eine glückliche Kindheit, da Wertach vom Krieg unberührt blieb. Sein Vater diente seit 1929 im deutschen Militär und war Mitglied der nationalsozialistischen Partei. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er in einem französischen Kriegsgefangenenlager interniert und kehrte erst 1947 nach Haus zurück, ein Fremder für seinen dreijährigen Sohn. Wie vielen anderen Jugendlichen wurde auch dem jungen Sebald die Vergangenheit verschwiegen. Er hörte über sie erstmals mit 17, 18 Jahren. Nach dem Abitur studierte er an der Universität Freiburg. Zu der Zeit fand in Frankfurt eine Gerichtsverhandlung gegen Nazitäter statt, die ihm die Vorgeschichte seiner Gegenwart zur Kenntnis brachte. Er entdeckte, daß die Täter Menschen wie seine Nachbarn, Postbeamte oder Bahnwärter, waren, die er aus seiner Kindheit kannte. Es war ein langer Prozeß für Max Sebald, sich mit seinen Erfahrungen auseinanderzusetzen und sie literarisch zu verarbeiten. 1966 übersiedelte Sebald nach England, wo er bis zu seinem Tod lebte. Vier Jahre lang hatte er eine Assistentenstelle in Manchester, danach wurde er zum Dozenten an der East England Unversität in Norwich ernannt und lehrte moderne deutsche Literatur. Er fing spät zu schreiben an, in deutscher Sprache. 1988 erschien der Gedichtband Vertigo, 1990 Die Ringe des Saturn, 1992 dann Die Ausgewanderten. Durch die Bekanntschaft mit jiidischen Einwanderern Manchesters und deren Bericht verstärkte sich sein Entsetzen über das nationalsozialistische Regime in Europa und vertiefte sich seine Fassungslosigkeit über das barbarische Geschehen. Aber wie der israelische Autor Aharon Appelfeld, geboren in der Bukowina, erzählte er niemals von Todeslagern oder Ermordungen durch die Nazis. Appelfeld schreibt über den Anfang der Verfolgungen oder über die Heimkehr der Überlebenden. Sebald meinte, nur Augenzeugen könnten über die Shoa selbst berichten. Er schrieb über die Menschen, die zwar vom Tod verschont waren, aber durch das schreckliche Zeitgeschehen gebrochen worden waren. Sebald erhielt etliche Preise: den Heinrich 84 Böll-Preis, den Preis der Los Angeles Book Review, den Literaturpreis von Berlin, den Heinrich Heine-Preis, den Josef BreitenbachPreis u.a. Die hebräische Fassung der Ausgewanderten in der Übersetzung von Michal Halevi, erst 2002 erschienen, enthält viele Fotos. Sebald war ein leidenschaftlicher Amateurfotograf und Sammler alter Fotos. Das Buch schließt mit einem Nachwort von Susan Sontag. Hanna Blitzer W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt/M.: Fischer 2000. 3545. Straßennamen als Spiegel einer Stadtkultur Wonach bzw. nach wem wurden und werden in Niederösterreich Straßen benannt? Zumindestens für die niederösterreichische Landeshauptstadt läßt sich diese Frage nun umfassend und detailliert beantworten, nachdem vor kurzem ein Bedeutungslexikon mit dem Titel „St. Pöltner Straßennamen erzählen“ erschienen ist. Diese neue Publikation, so jedenfalls der Wiener Sprachwissenschaftler Hermann Scheuringer, hat St. Pölten „die im Vergleich mit anderen Städten wohl ausführlichste und detaillierteste Analyse seiner Straßennamen und ihrer Geschichte“ gebracht. Natürlich dienen Straßennamen als ganz pragmatische, sprachliche Hilfsmittel primär der Orientierung, aber darüber hinaus sind sie auch ein — oft unterschätztes — Stück Kultur. In den Worten Hermann Scheuringers: „Während Orts- und Familiennamen unserer Einflußnahme großteils entzogen und vorwiegend Boten einer schon weit zurückliegenden Vergangenheit sind, zeigen Straßennamen weitaus mehr auch ‚zeitgeschichtliche’ Züge, legen Zeugnis ab von politischen Veränderungen wie von wirtschaftlichen, z. B. dem Wandel der Agrar- zur Industrielandschaft, weisen auf Persönlichkeiten hin (besser) mit oder (schlechter) ohne Bezug zu den Straßen, denen ihr Name verliehen wird, u.v.a.m. StraBennamen sind jedenfalls zu wenig beachteter, doch höchst subtiler Ausdruck von Stadt und Stadtwerdung.“ Ein wenig traurig stimmt die Tatsache, daß gerade eine Stadt wie St. Pölten, die so viele NSOpfer mit Straßenbenennungen geehrt und im öffentlichen Gedächtnis verankert hat, noch immer acht Straßen besitzt, die nach ehemaligen Nazis benannt worden sind. So trat etwa der St. Pöltner Pflichtschullehrer Alois Hildemann, nach dem die Hildemanngasse im Stadtteil Waitzendorf benannt ist, bereits 1932 der NSDAP bei und wurde deswegen 1946 aus dem Schuldienst entlassen, aber bereits 1947 wieder eingestellt. 1955 ging er als Hauptschuldirektor in den Ruhestand. In seiner Biographie ist im wesentlichen nichts Verdienstvolleres zu finden, als daß er von 1919 bis zu seiner Pensionierung wie so viele andere auch seinen Beruf ausgeübt hat — warum nach ihm also 1974 diese Gasse benannt wurde, bleibt schleierhaft. „[...] bin mit dem 1. Juli 1933 der NSDAP beigetreten; derzeit bin ich Parteianwärter der Ortsgruppe Klagenfurt-West, da ich infolge der beginnenden Illegalität keine Mitgliedsnummer mehr erhielt. Im Jahre 1934 wurde ich Vorstandsmitglied des Österr.Deutschen Volksbundes und habe in dieser Zeit eine Reihe von Vorträgen gehalten und Aufsätze geschrieben, z. B. in der ‚Deutschen Einheit’, in ‚Volk und Reich’, in ‚Der Weg’, welche das Missfallen namentlich der legitimistischen Kreise erregten und meine Massregelung herbeiführte. Nach derselben habe ich einen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen, wobei ich von Dr. A. Seyss-Inquart, dem jetzigen Herrn Reichsstatthalter, als Rechtsanwalt vertreten wurde“, schrieb der Historiker Ernst Klebel 1939 an den St. Pöltner NS-Oberbürgermeister und wurde umgehend als Stadtarchivar eingestellt. 1947 aus diesem Dienstverhältnis entlassen wurde nach ihm noch 1983 die Ernst-Klebel-Gasse benannt. Manfred Wieninger Manfred Wieninger: St. Pöltner Straßennamen erzählen. Innsbruck, Bozen: loewenzahn 2002. 428 S. Euro 29,— Buchzugänge Jean Ame£ry: Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Ortlichkeiten. Hg. von Gerhard Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002. 852 S. (Werkausgabe Bd. 2. — Die Gesamtedition der Werke, geplant sind neun Bände, wird von Irene Heidelberger-Leonard betreut.) Arbeitsgruppe Migrantinnen und Gewalt (Hg.): Migration von Frauen und strukturelle Gewalt. Wien: Milena 2003. 238 S. Euro 18,90/ SFr 32,50 (Reihe Dokumentation. Bd. 27). Bela Baläzs: Die Jugend eines Träumers. Autobiographischer Roman. Berlin: Arsenal 2001. 375 S. Anne Betten, Konstanze Fliedl in Zusammenarbeit mit Klaus Amann und Volker Kaukoreit (Hg.): Judentum und Antisemitismus. Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003. 253 S. Euro 39,80 Christian Eggers: Unerwünschte Ausländer. Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in französischen Internierungslagern 1940-1942. Berlin: Metropol 2002. 566 S. Euro 24,— Thomas Eicher (Hg.): Stefan Zweig im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts. Oberhausen: Athena 2003. 316 S.