Irrationalismus und Konsum
Im Folgenden sei es erlaubt, Kritik an einigen Tendenzen des
Gegenwartstheaters zu üben. Solcher Kritik bedarf es, denn ei¬
ne Herangehensweise, die stets freudig das jeweils Aktuelle be¬
grüßt, ist wissenschaftlich drapierte Apologetik. Die Angst, durch
eine Kritik an Gesehenem vielleicht nicht mehr als up to date
zu gelten, scheint mir weit verbreitet zu sein. Sie hat weniger
mit der Sorge, etwas Bedeutsames zu unterschätzen, als mit Mo¬
debewusstsein zu tun. Am Rande des Laufstegs sitzend und viel¬
leicht sogar von der Kamera erfasst, soll möglichst alles akkla¬
miert werden, was die Saison bietet. Im nächsten Jahr ist ohne¬
hin alles schon vergessen. Der Begriff des Verstehens hat da sei¬
ne eigentliche Bedeutung verloren, denn Verstehen schließt auch
Kritik ein, ohne diese wird Verstehen zum Hinnehmen des eben
Gebotenen. Kritik hat auch nichts mit Vorschriften zu tun, die
man den Akteuren machen möchte, etwa im Stile eines Gro߬
kritikers, der allerdings seinerseits Gefangener des Laufstegs ist.
Der Rundumschlag eines enttäuschten, aber auf längere Sicht
optimistischen Theaterbesuchers soll also jetzt einmal dem
scheinbar freundlichen Gestus der steten Aufgeschlossenheit vor¬
gezogen werden. Auf ein Gran Analyse braucht dabei nicht ver¬
zichtet zu werden, mehr Gewicht, als eine aufgeregte Apolo¬
getik des gerade „Spannenden“ enthielte, lässt sich dabei viel¬
leicht erzielen. Es ist nicht das Theater in seiner Gesamtheit ge¬
meint, gesprochen wird nur von Tendenzen, die eine Insze¬
nierung bestimmen oder aber auch bloß als Elemente in dieser
vorhanden sein können. Das Verfahren, einmal negativ eine
Landschaft zu beschreiben, soll als das Gegenstück zur affır¬
mativen Nacherzählung von Entwicklungen angesehen werden.
Die Inszenierung als Design, Trend, Spaß will die Unter¬
haltungsindustrie überbieten und verwendet den gesellschaft¬
lichen Gehalt, ja sogar die Elemente des Politischen als Ver¬
satzstücke. Anzufügen sind Unternehmungen der eleganteren
Art, die über ästhetische Konjunkturen funktionieren, ein Kon¬
junkturrittertum der optischen Modernität. Hier lautet das Etikett:
Neue Ästhetik, neue Formen, ästhetische Innovation usw. Dazu
kann auch der oft - ungeachtet seiner jeweiligen Funktionalität
— per se gepriesene Einsatz audiovisueller Medien gehören.
Besonders dann, wenn seine wahre Funktion nur darin besteht,
dem dürren Geschehen der Szene ein Kintopp-Gefühl hinzuzu¬
fügen. Mehr exklusive Methoden findet man in Inszenierungen,
deren Stil von der Dominanz des neuen Manierismus geprägt
sind, in ihnen ist vieles aufgesogen, was einmal Verfremdung,
Satire, Groteske war. Nur sind Form und Inhalt nicht in ein Span¬
nungsverhältnis gebracht, sondern bilden bar aller Dialektik ei¬
nen Manierismus für sich. Verwandt damit ist eine Vorgehens¬
weise, die die Brutalität, die in der Welt herrscht, mit szenischen
Mitteln überbieten möchte. Sie erinnert an eine ins Ästhetische
gewendete Sehnsucht nach dem Übermenschen. Oder sie gibt
die Akteure preis zugunsten einer über die Technik ausgestell¬
ten Gewalt. Im Licht- und Klangrausch wird der Mensch als Ma¬
rionette dargestellt.® Der weniger traurige als kokette Zirkel¬
schluss, mit dem solches legitimiert wird, ist der Verweis auf „un¬
sere Zeit‘: Das Überbieten der Ungeheuer ist eben unsere Zeit
und die Ungeheuer unserer Zeit erzeugen solche Darstellung.
Ernster zu nehmen ist vielleicht eine Allegorisierung des Un¬
begriffenen, mit der gesellschaftliche Fragen als nicht mehr wirk¬
lich relevant betrachtet werden. Hier finden sich szenische und
sprachliche Mittel des Expressionismus, allerdings ohne den Ges¬
tus der Empörung wieder. In solchen Unternehmungen wird die
Gesellschaft als Natur genommen, aber als erste, nicht als zwei¬
te Natur. Es handelt sich dabei oft nicht um das in die Form ein¬
gegangene Gesellschaftliche, sondern um den Einfall, der den ge¬
sellschaftlichen Katastrophen ihren wahren Schrecken nimmt.
Verschwunden ist bei all dem hier nur Angedeuteten der soziale
Sinn, mit dem man Fragen an den Text stellen könnte. Habe ich
etwas ausgelassen oder übersehen? Ja, sehr viel...
Ein Bewusstsein der Krise des Theaters ist bei den Akteuren
selbst vorhanden. Aber die Veranstaltungen, in denen von der
„Krise des Theaters“ gesprochen wird, leben vielfach davon,
dass in ihnen verschwommen die Erschließung neuer Welten,
neuer Formen, neuer Wahrnehmungsräume beschworen wird
und die Frage nach dem Verhältnis zur Realität — wenn über¬
haupt — dann mehr verschämt vorkommt.’ Der Ausweg wird
durch die Proklamation eines Ästhetischen ohne inhaltliche
Implikationen gesucht.
Es gibt nicht die eine Ursache der offenkundigen Krise ei¬
ner Gattung und das Wort Krise ist hier vielleicht beschönigend,
da es bereits die Lösung in sich enthält, zudem mag es sugge¬
rieren, dass es ein Theater außerhalb der Krise einer Gesellschaft
geben kann. Die Feststellung, dass Theater immer Krise zu sein
habe - ein Apergu, das bekanntlich Mitte der neunziger Jahre
die kritische Variante des Krisenbewusstseins ausdrückte — hat¬
te demgegenüber seine Evidenz. Sie war aber wohl mehr Aus¬
druck eines ironischen Spiels mit dem Verbliebenen, das die
Demontage einschloss.'” Die Bedingungen, unter denen in
Deutschland zur Zeit über Krise diskutiert wird, sind vor allem
durch den Kampf gegen Kürzung des Budgets und die Schlie¬
Bung von Theatern gekennzeichnet. ''
Die Verhältnisse in Österreich und Deutschland sind dabei
verschieden, wenngleich es schon allein wegen der hier wie dort
tätigen Theaterleute gleiche oder ähnliche Phänomene gibt.
Einige krisenhafte Erscheinungen ließen sich unter dem Thema
Irrationalismus auf dem Theater zusammenfassen. Unter die¬
sem Gesichtspunkt wird erkennbar, dass dabei alte und neue
Probleme ineinander verschränkt sind. Man könnte die Erin¬
nerung an die alten Regisseure also nicht nur im Sinne positi¬
ver Beispiele aktivieren, sondern auch deren Verhältnis zum
Irrationalismus einer genaueren Untersuchung unterziehen. Neu¬
ere Darstellungen des Gegenwartstheaters — wie die von Joa¬
chim Fiebach - heben jedenfalls Entwicklungsstränge hervor,
die die Frage nach dem Verhältnis von Irrationalismus und Thea¬
ter als relevant erscheinen lassen."
Es führt dieses Problem — das keineswegs auch nur ansatz¬
weise hier behandelt werden kann — zur komplizierten Frage
nach dem, was heute als Avantgarde oder zumindest als das
Avancierte empfunden wird. Walter Benjamin hatte 1936 in sei¬
nem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit‘“ mit Bezug auf den Dadaismus geschrie¬
ben: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst
gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befrie¬
digung die Stunde noch nicht gekommen ist. Die Geschichte
jeder Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf
Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränder¬
ten technischen Standard, d.h. in einer neuen Kunstform erge¬
ben können. Die derart, zumal in den sogenannten Verfallszeiten,
sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst ge¬
hen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräfte¬
zentrum hervor.” Eine politische Unschuld der Avantgarde exi¬
stiert nicht, wie die Verbindung der Vertreter des Futurismus mit
dem Faschismus in Italien zeigt. Benjamins Feststellung aber
scheint etwa für die Mittel plausibel zu sein, mit der die histo¬
rischen Avantgardebewegungen dem politischen Theater von